Christian Schüles "Ich bin weiß und männlich und kann nichts dafür!". Eine kommentierte Durchsicht.

 

Im Deutschlandfunk Kultur erschien am 18.08. 2020 unter der Rubrik "Politisches Feuilleton" ein Kommentar von Christian Schüle, den ich hier meinerseits kommentieren will. Anhand des Textes lässt sich meines Erachtens exemplarisch zeigen, wie Meinungsartikel arbeiten, wenn sie nicht auf Erkenntnisgewinn sondern Stimmungsmache abzielen. In den eckigen Klammern finden sich meine Kommentare zu den Textpassagen von Christian Schüles Kommentar, den ich hier komplett wiedergebe.

 

 

ICH BIN WEISS UND MÄNNLICH UND KANN NICHTS DAFÜR!

 

[Als Aussage ist die Überschrift sicher richtig. Allerdings wäre sie so sinnlos wie „Ich habe zwei Füße und kann nichts dafür“, wenn damit nicht behauptet werden sollte: Manche sehen das anders. Und zwar: Du bist weiß und männlich und KANNST etwas dafür. Gleich in der Überschrift werden zwei Phänomene verwechselt: 1. Niemand kann etwas dafür, mit welcher Hautfarbe und welchem Geschlecht er oder sie geboren wird. 2. Es liegt sehr wohl in der eigenen Verantwortung, die strukturellen Privilegien zu bedenken, die mit der eigenen Hautfarbe und dem eigenen Geschlecht einhergehen können. Identitätspolitische Argumentationen zielen auf Punkt 2 ab, Punkt 1 ist das, was man in der Rhetorik einen Strohmann nennt, also ein schlechtes bzw. rundherum falsches Argument, das ich dem Gegenüber unterstelle, um es dann widerlegen zu können. Allerdings kommt es gerade in sozialen Medien vor, dass auch identitätspolitisch Argumentierende Phänomen 1 und 2 verwischen.]

 

Von Christian Schüle

 

[Hier kann man sich fragen, was ein Christian Schüle zu dem Thema beizutragen hat, also welche Expertise er für identitätspolitische  Positionen mitbringt jenseits des Umstandes, dass er ein weißer Mann ist. Diese Frage ist nicht unerheblich, weil ihre Beantwortung Aufschluss darüber geben könnte, was die Motivation des Kommentars ist, also zum Beispiel, ob es in dem Text vor allem, um die Gefühle von Christian Schüle gehen soll, oder um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit identitätspolitischen Positionen. Unten erfahren wir, dass Schüle Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert hat und als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg lebt. Auch hat er einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Dies legt nahe, dass sich Schüle nicht rein persönlich, sondern philosophisch, soziologisch oder politisch (oder studienfachübergreifend) mit der im Vorspann formulierten Frage befassen will: Wer darf über was sprechen? Für die Einordnung des Textes wäre es hilfreich zu wissen, ob es sich also um einen wissenschaftlichen Kommentar oder eine rein persönliche Glosse handeln soll. Das ist im Hinterkopf zu behalten.]

 

Wer darf über was sprechen? Gerade in Diskriminierungsfragen wird diese Frage heißt diskutiert. Der Philosoph Christian Schüle sieht sich als weißer, heterosexuell orientierter Mann in einem verstörenden Kulturkampf um Deutung und kulturelle Hegemonie.

 

[Hier wird erläutert, dass sich der Verfasser der Zeilen in einem Kulturkampf wähnt, und dass ihn dieser Kampf verstört. Warum, erfahren wir noch nicht, aber offenbar geht es um die Frage, wer die Deutungshoheit beanspruchen darf und wer in der Kultur eine Führungsrolle innehat. Auch das ist im Hinterkopf zu behalten.]

 

Kürzlich durfte ich lernen, dass ich Rassist bin. Ich wusste es gar nicht, weil mir im Traum nicht einfiele, mich anderen Ethnien gegenüber abwertend zu verhalten. Nein, ich bin Rassist, weil ich ich bin: ein mittelalter weißer Mann mittelschichtiger, biodeutscher, gar schwäbischer Herkunft mit heterosexueller Orientierung.

 

[Schüle steigt in den Haupttext mit einem persönlichen Erlebnis ein, dass er ein wenig ironisch formuliert: „Er DURFTE lernen…“ Wir erfahren nicht, wer ihn wo und unter welchen Umständen einen Rassisten genannt hat. Wir erfahren stattdessen, dass Schüle sich keineswegs für einen Rassisten hält (Bücher und Podcasts über Rassismus wie die von Reni Eddo-Lodge, Alice Hasters oder Tupoka Ogette weisen darauf hin, dass Menschen sich nicht für Rassisten halten, weil sie beispielsweise strukturellen Rassismus nicht (ausreichend) reflektieren.) Wir erfahren auch, dass Schüle allein deshalb zum Rassisten erklärt wurde, weil er „ein mittelalter weißer Mann mittelschichtiger, biodeutscher, gar schwäbischer Herkunft mit heterosexueller Orientierung“ ist. ]

 

Offenbar kann ich gar nicht kein Rassist sein, da ich in den privilegierten Strukturen der Bundesrepublik groß geworden bin, die aktivistische Antirassisten als rassistisch und Gendertheorien vertretende Subjekte als hetero-normativ repressiv bezeichnen.

 

[Da wir nicht wissen, wer ihn in welchem Kontext aus den genannten Gründen als Rassisten bezeichnet hat, wissen wir nicht, ob Schüle die Aussage richtig einordnet. Denkbar wäre, dass er das Konzept eines "strukturellen Rassismus" nur sehr oberflächlich kennt, und somit auch nicht die Idee, dass weiße Männer von diesen Strukturen oft unbewusst profitieren, wodurch sie den strukturellen Rassismus reproduzieren, also zu seinem Erhalt beitragen. Das macht Schüle natürlich nicht zu einem Rassisten im populären Wortsinn, aber es ist denkbar, dass die Bezeichnung in die "strukturelle" Richtung zielte und sich Schüle weigert, diese zur Kenntnis zu nehmen. Das wiederum ließe den Schluss zu, dass er sich mit der antirassistischen Debatte und Literatur der letzten Jahre nicht auseinandergesetzt hat. P.S.: Dass Schüle für Menschen, die „Gendertheorien vertreten“ das meist abwertend benutzte Wort „Subjekte“ verwendet, lässt nicht auf ein sachliches Anliegen schließen, das sachlich vorgetragen werden soll, sondern um das Erzeugen eines Feindbildes.]  

 

Schlechte Karten als weißer Mann?

 

Nun ja, kurzgesagt: Ich habe dieser verrückten Tage denkbar schlechte Karten, als moralisch korrektes Individuum durchzugehen, obwohl ich in der Gleichwertigkeit aller Menschen das höchste Gut erkenne.

 

[Hier wird formuliert, dass Schüle die Tage, also wahrscheinlich die Zeit, in der er aktuell lebt, für verrückt hält. Mit dieser umgangssprachlichen Formulierung soll vermutlich zum Ausdruck gebracht werden, dass Schüle die Frage, wer sich wozu äußern darf für „verrückt“ hält und womöglich auch alle, die es anders sehen, als er. Damit wäre dann allerdings klar gemacht, dass sich Schüle für eine Debatte auf Augenhöhe nicht interessiert, sondern die Gegenposition lediglich abwerten will. Es ist nicht ganz klar, da die Formulierung „Ich habe dieser verrückten Tage schlechte Karten…“ schwammig ist und kein konkretes Gegenüber benennt. Wer gibt ihm auf welche Weise schlechte Karten, bei wem als moralisch korrektes Individuum durchzugehen? Indem Schüle nicht konkret formuliert, baut er ein schwer greifbares (und somit auch schwer zu widerlegendes) Bedrohungsszenario auf, in dem er das Opfer nicht näher benannten Umstände und Gruppierungen ist. Offenbar fühlt er sich ungerecht behandelt. Denn obwohl er seinen Worten nach die Gleichwertigkeit aller Menschen als höchstes Gut erkennt, sprechen ihm Manche offenbar ab, an dieser Gleichwertigkeit wirklich interessiert zu sein. Hier lässt sich fragen, ob Schüle die Kritik, die ihn offenbar getroffen hat, nachvollziehen will, oder in erster Linie seine Betroffenheit thematisieren und mit einer Abwertung der Kritiker*innen verbinden will.]  

 

Aber darf ich hier überhaupt über Gesellschaft sprechen? Damit geht es schon los. Als mittelalter weißer Mann trage ich bekanntlich die Erbschuld des Kolonialismus der Vorvorväter und der toxischen Männlichkeit an sich in mir, die nach Ansicht von Politikwissenschaftlerinnen für Terror, Krieg, Gewalt und Unterdrückung verantwortlich sein soll.

 

[Hier legt Schüle nahe, dass er aus der Sicht mancher Menschen („Politikwissenschaftlerinnen?) womöglich gar nicht über Gesellschaft sprechen darf, weil er eine „Erbschuld“ in sich trage. Wieder ist nicht klar, wer Schüle hier etwas verbietet. Auch unklar bleibt, was mit „hier“ gemeint ist. Zu beiden Fragen: Der Deutschlandfunk ist es offensichtlich nicht. Auch bleibt weiterhin unklar, ob Schüle das Konzept des Intersektionalismus bekannt ist,  das versucht, anhand von Persönlichkeitsmerkmalen wie biologisches und soziales Geschlecht, ethnische Herkunft, sexuelle Ausrichtung, Religionszugehörigkeit, Körpermerkmale, soziale Herkunft, körperliche bzw. geistige bzw. seelische Gesundheit sowie Handicaps spezifische Formen von Diskriminierung und Bevorzugungen in den Blick zu nehmen. Einer solchen Perspektive zu Folge dürfte Schüle durchaus zu allem reden, es wäre bei manchen Fragestellungen nur unnütz, da Schüle als weißer heteronormativer Mann aus dem Bürgertum bei Fragen der Diskriminierung anhand von Klasse, Geschlecht, Hautfarbe besser als Schüler der betroffenen Gruppen in Erscheinung träte und von sich aus wahrscheinlich nichts Substantielles beizutragen hat. Diese Perspektive kann man durchaus kritisch betrachten, vor allem, wenn sie rigoros und vereinfachend absolut gesetzt wird, also wenn eine Meinung schon deswegen nichts gilt, nicht gehört oder gar unterbunden werden soll, weil sie von einem weißen Mann vorgetragen wird. Solche Argumentationsmuster sind in den sozialen Medien zu beobachten. Wie stark sie zu gewichten sind, ist eine andere Frage.]

 

Was kann ich tun? Mich demütig und dauernd entschuldigen? Mich schämen für mich und mein Geschlecht? Die Klappe halten oder Aktivist werden?

 

[Es ist nicht klar, wem Schüle diese Fragen stellt, aber er scheint damit in Form rhetorischer Fragen die Optionen aufzuzählen, die ihm die Kulturkämpfer*innen gewähren. Optionen, die aber – auch das kann man nur vermuten – für Schule nicht in Frage kommen.]

 

Subjektiv konstruierte Identitäten

 

Seit kurzem findet ein verstörender Kulturkampf um Deutung, kulturelle Hegemonie, psychische Hypersensibilität und politische Repräsentation statt. Wichtiger als Inhalt und Aussage sind Herkunft und Haltung des Sprechenden. Es kommt nicht mehr auf Text und Kontext an, sondern auf die Sprech-Berechtigung dessen, der spricht. 

 

[Es ist nicht klar, was Schüle mit „seit kurzem“ meint, zumal schwarze Frauen in den USA bereits in den 1960ern innerhalb einer revisionistischen feministischen Theorie ihre Diskriminierung als Frauen UND als Schwarze identitätspolitisch formulierten und die Triple-Oppression-Theorie (race-class-gender) bereits in den 1980ern aufkam. Auch die Frage nach der „Sprecherposition“, also wer legitim in welchem Kontext über was reden kann bzw. die Deutungshoheit über einen Sachverhalt hat, ist in der Diskursforschung gerade innerhalb der Sozialwissenschaften spätestens seit 2005 durch die wissenssoziologische Diskursanalyse von Reiner Keller bekannt. Vermutlich formuliert Schüle hier, dass ihm das Thema während des Studiums nicht begegnet ist, nun aber seit kurzem als Phänomen begegnet und zu schaffen macht.]

 

Statt mit wissenschaftlicher oder intellektueller Erkenntnisarbeit Verstehen und Verständnis zu produzieren, geht es um das Bestreben, subjektiv konstruierte Identitäten auch radikal subjektiv auszudrücken und sichtbar zu machen.

 

Um es, bei allem Respekt, zuzuspitzen: Werden in Kürze die intersexuelle Veganistin transkaukasischer Abstammung oder das kontrasexuelle Subjekt mit animistischer Spiritualität, die/der/das sich von der Mehrheit unterdrückt fühlt, die Agenda der öffentlichen Rede bestimmen, weil ihre potenziellen Kränkungen nur sie zur Rede legitimiert?

 

[Respektvoll wirkt der Kommentar von Schüle, der einen Begriff wie „Subjekte“ benutzt, bisher nicht. Zumal er sich in seiner Widerrede nicht auf identitätspolitische oder intersektionalistische Argumente bezieht, sondern auf deren verzerrte Interpretation durch Teile der Linken und großer Teile ihrer Kritiker*innen. Das zeigt sich auch in dem oben stehenden Absatz, der mit launigen Identitäts-Zusammenstellungen wahrscheinlich auf die Schenkelklopfer der Leserschaft abzielt: Die Frage, ob die intersexuelle Veganistin – Schüle meint wahrscheinlich Veganerin – in Zukunft die Agenda der öffentlichen Rede bestimmen wird – stellt sich so nicht. Die Frage ist vielmehr, ob die Deutungshoheit zum Thema Intersexualität nicht in erster Linie bei Intersexuellen liegen sollte. Auch darüber kann man debattieren, wie es innerhalb der Linken seit Jahren vehement und teils auf hohem Niveau (Kimberlé Crenshaw, Jeff Sparrow u.a.) getan wird. Wahrscheinlich hätte Schüle kein Problem, anzuerkennen, dass man beim Thema „Vergewaltigung“ oder „Holocaust“ vor allem die Stimmen von Betroffenen berücksichtigen sollte und dass man als weder von Vergewaltigung noch von der Judenvernichtung betroffener Philosoph seine eigene Sprecherposition gut überdenken sollte.] 

 

Versagen linker Antworten

 

Dass jetzt überall klare Zeichen gefühlter Benachteiligung erkannt werden, ist Resultat eines quasireligiösen Befreiungsmoralismus, den man „Identitätspolitik“ nennt. Es ist das Kernthema neuer linker Ideologie, da die alte Linke versagt hat und weder einen attraktiven ökonomischen Gegenentwurf zum Kapitalismus anbieten, noch den Rechtsnationalismus aufhalten konnte, dem europaweit beträchtliche Teile der arbeitenden Klasse in die Arme laufen.

 

[Der erste Satz enthält drei Behauptungen, denen keine Begründung oder Quellenangabe folgt. Der zweite Satz enthält fünf Behauptungen, denen keine Begründung oder Quellenangabe folgt. Mehrere dicht miteinander verzahnte Behauptungen dürften darauf abzielen, die Leserschaft zu überwältigen, anstatt mit Argumenten und Belegen zu überzeugen.]

 

In der vor allem von jungen Aktivistinnen und Aktivisten betriebenen Identitätsdogmatik stecken erstaunliche Denkfehler.

 

Erstens. Obwohl Herkunft oder Identität ja eben kein Kriterium zur Wertung mehr sein sollen, werden sie im Kampf um Sichtbarkeit gerade explizit zur zentralen Kategorie erhoben.

 

Zweitens: Diversität setzt Differenz voraus, die durch falsch verstandene Gleichmacherei aber ja gleich wieder aufgehoben wird. Mit der feststellenden Beschreibung von Merkmalen des Diversen ist ja keineswegs automatisch dessen Abwertung verbunden.

 

Drittens: Gerade indem man einen Menschen zum Opfer erklärt, stellt man ihn auch als Opfer aus. So entsteht eine Opferkonkurrenz um Aufmerksamkeit.

 

[Schüle, der den „jungen Aktivistinnen und Aktivisten“ einer „Identitätsdogmatik“ erstaunliche Denkfehler bescheinigt, erzeugt in seinen drei Punkten seinerseits einen logischen Widerspruch. Unter „Erstens“ vermerkt er, dass innerhalb einer „Identitätsdogmatik“ „Herkunft oder Identität“ (hier mag er sich nicht entscheiden) zur zentralen Kategorie erhoben werden. Unter „zweitens“ unterstellt er dann, dass die „feststellende Beschreibung von Merkmalen des Diversen“ in Namen einer „falsch verstandenen Gleichmacherei“ aufgegeben werden sollten. Nun können Identitätspolitiker*innen aber schlecht diverse Identitäten formulieren, ohne auch diverse Merkmale anzuführen. Eine solche Beschreibung wird dabei nicht als Problem gesehen. WAS in identitätspolitischen Positionen problematisiert wird sind die (oft auch subtilen) Abwertungen, die mit Merkmalen wie „dick“, „schwarz“, „arm“ verbunden sind. Schüle ist hier nicht bereit, zwischen „feststellender Beschreibung“ und den abwertenden Zuschreibungen, die (auch unbewusst) mit diesen Beschreibungen verbunden sind, zu differenzieren. Er lastet diese mangelnde Bereitschaft jedoch nicht sich selbst, sondern dem Gegenüber an. Unter „drittens“ trifft er im ersten Satz einen Punkt, der durchaus kontrovers unter Linken diskutiert wird. Wäre allerdings die Ausstellung als „Opfer“ generell als das größere Übel zu betrachten, dann hätten weder Menschen gegen Sklaverei noch Frauen ums Frauenwahlrecht noch die Bauern um eine Abschaffung der Leibeigenschaft streiten müssen. In der Verkürzung ist Schüles Einwand als reaktionär zu betrachten.]

 

Neue, antiaufklärerische Ära

 

In einem Klima hypermoralischer Erhitzung, ist Identitätspolitik das Geschäftsmodell selbsterklärter Aktivisten und Aktivistinnen, die die Komplexität der Sachverhalte gern auf eine moralische Monade reduzieren. Wir rutschen immer stärker in eine antiaufklärerische, fundamentalistische, intolerante Ära hinein.

 

[Hier formuliert Schüle ein Bedrohungsszenario. Dabei bezeichnet er Aktivisten und Aktivistinnen als „selbsterklärt“. Das wirft die Frage auf, welche Aktivist*innen nicht selbsterklärt sind, also auf eine Berufung von ganz oben bauen können. Hier demonstriert Schüle meines Erachtens in einem im Furor vermutlich unbewusst hingeschriebenen Adjektiv seine konservativ-hierarchisches Gesellschaftsverständnis. Mit dem Wort „Geschäftsmodell“ unterstellt er identitätsdogmatischen Aktivist*innen die unlauteren Motive des Gelderwerbs, was angesichts antisemitischer Stereotype keine ganz unproblematische Unterstellung ist. Abgesehen davon hat Schüle für seinen Beitrag sicher Geld erhalten, während sich mir das „Geschäftsmodell Identitätsdogmatik“ bisher nicht zwingend erschlossen hat. Mit dem von Leibniz stammenden Wort „Monade“ stellt Schüle hier in einem ein bedrohliches Feindbild beschwörenden Absatz seine Bildung aus. Das kann als Versuch gewertet werden, dem nicht  belegten (und generell schwer zu belegenden) Szenario bildungsbürgerliche Autorität zu verleihen.]  

 

Und ich – mittelalter weißer hetero-normativer Mann – schäme mich kein bisschen, darüber gesprochen zu haben.

 

[Hier möchte ich noch einmal auf die zwei Punkte zurückkommen, die im Hinterkopf behalten werden sollten: Da ist zum einen die Frage: Handelt es sich bei diesem Kommentar vorrangig um eine Auseinandersetzung zur Problematik der Sprecherposition mit dem Ziel des Erkenntnisgewinns oder eher um eine Glosse, die eine persönliche Kränkung zu verarbeiten sucht? Für das Zweite spricht der polemische Tonfall samt Abwertung eines nicht näher benannten Gegenübers, die vielen nicht belegten oder näher begründeten Behauptungen, die persönliche Rahmung – Einstieg und Ausstieg des Textes – sowie das offenkundige Desinteresse an identitätspolitischen oder intersektionalistischen Positionen. Zum anderen bleibt die Frage, welche Rolle Lehrstuhlinhaber Christoph Schule innerhalb eines von ihm wahrgenommenen Kampfes um kulturelle Deutungshoheit innehaben könnte. Wahrscheinlich ist: eine mehr als früher in Frage gestellte. Seinen Umgang damit hat uns Schüle hier demonstriert. Dass dieser Umgang hier augenscheinlich nicht souverän, interessiert oder intellektuell redlich ausfällt, lässt auf eine nicht reflektierte emotionale Betroffenheit des Autors schließen. Insofern legitimiert ihn seine Sprecherposition als weißer männlicher Universitätsprofessor durchaus zu diesem Text.]

 

 

P.S.: Allgemein formuliert lassen sich in meinen Augen anhand des Artikels von Schüle vor allem folgenden rhetorischen Kniffe für Artikel finden, die auf stimmungsmachende Weise an den Groll der Leserschaft appellieren.

 

1. Zugleich klares und diffuses Feindbild: Ich erkläre eine Gruppe oder Position eindeutig zu einem Problem oder einer Gefahr. Dabei differenziere ich nicht verschiedene Gruppen, Phänomene und Positionen, sondern bündele sie zu einem klaren, homogenen Feindbild. Ich achte aber auch darauf, diesen Feind vielgestaltig erscheinen zu lassen. Er darf keineswegs als kleine, eindeutig zu lokalisierende Gruppe erscheinen, sondern muss mächtig, gefährlich und irgendwie überall sein. Vielleicht ein Zeitgeist, dem ich mich mutig und "noch selbst denkend" widersetze. Auch, um meinem Artikel Gewicht zu verleihen. Dabei helfen mir 2., 3. und 4.

 

2. Verallgemeinernde Formulierungen: Mit Formulierungen wie „man darf heute ja kaum noch was sagen“ oder „Die da oben profitieren mal wieder“ oder „Mittlerweile kommt es nur noch auf die Sprechberechtigung des Sprechers an“ hebele ich konkrete Fragen nach dem wer?, wann?, wo? und wie? aus und erzeuge ein allgemeines, kaum zu überprüfendes Bedrohungsszenario durch eine schwer greifbare, sicher aber große Gruppe. Ein Beispiel aus Schüles Text ist die Formulierung: „Wichtiger als Inhalt und Aussage sind Herkunft und Haltung des Sprechenden. Es kommt nicht mehr auf Text und Kontext an, sondern auf die Sprech-Berechtigung dessen, der spricht.“ Unklar bleibt: Wann, wo, warum und in welchem Kontext kommt es angeblich nicht mehr auf Kontext an? Ein weiteres Beispiel aus Schüles Text nutzt das Wort „überall“ und definiert „Identitätspolitik“ als „quasireligiösen Befreiungsmoralismus“: „Dass jetzt überall klare Zeichen gefühlter Benachteiligung erkannt werden, ist Resultat eines quasireligiösen Befreiungsmoralismus, den man „Identitätspolitik“ nennt.“

 

3. Übergeneralisieren: Ich benutze große Begriffe, erkläre aber nicht genau, was ich damit meine oder differenziere sie nicht aus. So kann ich Vokabeln wie „Identitätspolitik“, „Superreiche“, „Cancel-Culture“, „Neoliberale“ oder „Juden“ wie ein Behältnis mit allem möglichen anfüllen, assoziativ mit anderen Begriffen kombinieren und die Leserschaft dazu inspirieren, das genauso zu tun.

 

4. Assoziieren und Verunklaren: Je unklarer ich im Gesamten formuliere (am besten kunstvoll kontrastiert mit einzelnen besonders präzisen Anekdoten), desto besser. Dann nämlich kann die Leserschaft besonders gut eigene Ressentiments und negative Erfahrungen in die Gruppe hinein lesen und sich zu einem „wir“ zählen, das von „denen“ bedroht wird. Indem ich mit Andeutungen, Assoziationen und Behauptungen arbeite, untergrabe ich die Möglichkeit, den Text präzise zu hinterfragen. Ich appelliere nicht ans Denken, sondern an Gefühle wie Angst, Kränkung, Schadenfreude, Rachegelüste usw. Dabei helfen mir auch Buzzwords und bewertende Adjektive wie „verstörend“, „Geschäftsmodell“, "hypermoralisch", "fundamentalistisch" oder "quasireligiös".

 

5. Jumping to conclusions: Von einem anekdotischen Phänomen (z.B. jemand hat mich Rassist genannt, obwohl ich mich selbst nicht so sehe) komme ich ohne viele Zwischenschritte zu Formulierungen wie „Wir rutschen immer stärker in eine antiaufklärerische, fundamentalistische, intolerante Ära hinein.“ Es ist nicht nötig, meine starken Behauptungen zu belegen, da ich insgeheim nicht über Fakten sondern über Ängste spreche, ohne den Übergang von Info zu emotionaler Interpretation zu kennzeichnen. Die Fakten in meinem Artikel sind dabei oft dünn und werden von mir nicht unvoreingenommen betrachtet, sondern unter der Vorherrschaft meiner persönlichen Gefühle (z.B. von Kränkung, Angst vor Zurücksetzung, Verunsicherung usw.).

 

6. Kumpelhafter Tonfall: Durch bestimmte Wörter und Sätze suggeriere ich der Leserschaft, dass ich auf ihrer bzw. sie auf meiner Seite steht. Bei Schüle sind das beispielsweise: „Kürzlich durfte ich lernen, dass ich Rassist bin“, „gar schwäbischer Herkunft“, „Nun ja, kurzgesagt“, „bekanntlich“, „Damit geht es schon los“…

 

7. Bildungsbürgerliche Begriffe: Gleichzeitig demonstriere ich durch die Verwendung bestimmter Begriffe, dass ich zum Bildungsbürgertum gehöre. Damit verschaffe ich meinen persönlichen Ansichten eine größere Autorität und lasse sie wie das Ergebnis einer seriösen wissenschaftlichen Auseinandersetzung erscheinen.

 

8. Strohmann-Argumente: Ich unterstelle dem Feindbild möglichst schiefe oder rundum falsche Argumente bzw. nutze in der Auseinandersetzung mit einer Position nur diese. Auch unterstelle ich dem Feind gleichzeitig schäbige Absichten und Dummheit bzw. Denkfehler und (in Deutschland) am besten noch Geldgier. Wie das geht führt Schüle in seinem Text mustergültig vor.

 

9. Projektion: Meine eigenen Ressentiments unterstelle ich dem Feindbild, das ich auf antiaufklärerische, intolerante Art mit moralischem Furor als antiaufklärerisch, intolerant und hypermoralisch bezeichne. Lässt sich die Leserschaft auf meinen Text ein, wird sie dieses Manöver gerne mitmachen und dessen entlastende, selbst-erhebende Wirkung genießen.

Prost auf die Klischees: „GRM“ von Sibylle Berg

Dieses Buch ist interessant. Es liest sich, als hätte es ein ziemlich intelligenter 30jähriger Incel auf Stereoiden geschrieben, kurz vor seiner Selbsttötung. Die Verfasserin ist allerdings eine erfolgreiche (Theater-) Autorin und SPON-Kolumnistin Anfang 50 und hat mit „GRM“ gerade den Schweizer Buchpreis gewonnen. Und das, ohne dass sich jemand bemüßigt gefühlt hat – wie bei Karen Köhlers Miroloi“ – eine Debatte darüber anzuregen, ob sich die Maßstäbe für Literatur verschoben haben. Dabei wäre es bei GRM viel angebrachter, sich einmal zu fragen, anhand welcher Kriterien wir von (guter) Literatur sprechen.

 

Ist differenzierte Charakterzeichnung ein wichtiges Kriterium? Die gibt es bei Berg nicht. Sämtliche Figuren sind Handpuppen der Autorin. Sie denken und sprechen gleich und dabei in Bezug auf ihre Herkunft und ihr Alter und ihre Lebenslage völlig unplausibel. Das Personal in „GRM“ bildet einen Chor, der das Elend der Menschheit wortreich und sarkastisch besingt. Differenzierte oder auch nur plausible Darstellungen menschlicher Motivationen sind dafür nicht nötig.

 

Ist es eine Sprache, die den Leser*innen Zugang zu einer ganz spezifischen Welterfahrung eröffnet? Die Sprache in GRM ist schnell, soghaft, mitreißend, gleichzeitig alltagsnah und sarkastisch abgehoben, angereichert mit ein paar originellen Eigenheiten. Sie wirkt aktuell, frisch, jung und eröffnet durchaus den Zugang zu einer spezifischen Welterfahrung, nämlich: 600 Seiten lang mit den extrem pessimistischen Meinungen von Bergs Autorenstimme  zugerantet zu werden. Dass die Leser*innen dabei mit Stilblüten, fehlerhaften Tempiwechseln und einer unstimmigen Chronologie konfrontiert werden, fällt nicht weiter ins Gewicht. Ein Rant lebt von seiner Energie, nicht von seiner handwerklichen Makellosigkeit.

 

Ist es die Subtilität, mit der Weltzugang vermittelt wird? Die rasante Sprache Bergs (manche kennen sie so ähnlich aus ihren Kolumnen) ist geheimnislos. Es gibt kein Zwischen-den-Zeilen, alles liegt mehr als deutlich zu Tage. Wie im Porno jedes Geschlechtsteil von allen Seiten ausgeleuchtet wird, wird hier jeder kleinste Handgriff einer Figur von der Autorenstimme ausführlich kommentiert. Das Verhältnis von Beschreibung („show“) sowie Behauptung und Meinung („tell“) liegt etwa bei 20 zu 80. Die Leserschaft erschafft den Text kaum mit, sondern kann größtenteils nur Zeuge dieses Spektakels sein und wahlweise den Kopf schütteln, nicken oder das Buch zuklappen.

 

Ist Welthaltigkeit ein wichtiges Kriterium für Literatur?  Die oft redundanten Behauptungen und Meinungen drehen sich um fast alles, was man in den Medien in den letzten Jahren serviert bekam: von den „Abgehängten“ über die neoliberale Privatisierung des Wohnungsmarktes bis zu Grundeinkommen, Überwachung, „Sozialpunkten“, Internetkritik, sexueller Gewalt, Patriarchat, Privilegien oder Marsbesiedlung. Es geht um die Schere zwischen arm und reich, Datamining, das Erstarken faschistoider Parteien, Hacking, die Missbrauchsskandale von Rochdale und Rotherham, die Aushöhlung des Gemeinwesens, Drogen, Jugendliche. Es ist also sehr viel Welt in „GRM“, allerdings in der Breite, nicht in der Tiefe. Während Dickens noch fast täglich durch die Arbeiterviertel Londons gelaufen ist und Zola ein halbes Jahr bei Bergleuten lebte, bevor er sich an „Germinal“ setzte, wirkt „GRM“ so, als habe Berg ihre Einsichten vor allem aus dem Internet. Das Ergebnis: viel moralischer Furor, viel Hysterie, viel pseudo-abgeklärte, spöttische Vereinfachung, wenig Anteilnahme. Jedes Thema wird in etwa auf dem Niveau einer solide recherchierten SPIEGEL-Reportage, eines Meinungsartikels in der ZEIT oder der konkret oder eines quergelesenen Heise-Essays behandelt. Also selten richtig dumm, aber auch selten wirklich weit und tief und differenziert gedacht. Wenn man schon ein wenig älter ist und seit längerer Zeit Bücher und Zeitungen liest, weiß man ziemlich bald, was in GRM inhaltlich zu diesem oder jenem Thema geäußert werden wird.   

 

Ist es das moralische Ideal, an dem sich ein Werk konsequent orientiert? „GRM“ nimmt vor allem die Menschen in den Fokus, denen es wirklich schlecht geht und die oft keine Stimme haben. Misshandelte Jugendliche mit psychisch kranken, arbeitslosen Eltern in einem hoffungslosen Millieu, Obdachlose, Suizidale, Vergewaltiger oder einfach „nicht funktionierende“ Menschen will sich die Gesellschaft in ihrem Bewusstsein tendenziell vom Leib halten. Da macht Berg nicht mit. Das sehe ich als nicht geringes Verdienst ihres Romans an. Allerdings verhindert ihr alles umspannender Pessimismus, dass es mich als Leser interessiert, was aus der Menschheit wird. Dem Weltekel folgt die Gleichgültigkeit, da hier auf Erden eben nichts zum Besseren zu wenden ist. Die Jugendlichen Hannah, Karen, Peter und Don erzeugen dabei immerhin phasenweise Anteilnahme bei mir, aber ein nicht-bedrückender Abenteuerroman wie eine Kommentatorin auf Facebook schrieb, ist das Buch in meinen Augen nicht. Dazu ist es zu egal, was die Kids machen. Wir wissen nämlich ab Seite 1, dass in dem literarischen Kosmos Bergs Rettung nicht vorgesehen ist, folglich gibt es auch kein nennenswertes Abenteuer.

Fazit: Für junge Leserinnen und Leser, die einmal einen extrem schwarzhumorigen, durchaus schmissigen, aber auch sehr redundanten Parforceritt durch die Feuilleton-Aufreger der letzten Dekade mitverfolgen möchten und sich moralischen Defätismus leisten können.    

 

Typische Passagen:

„Die kommende Generation würde aus den psychotischen Ex-Kindern aus armen Verhältnissen, den Ritalin-durchgedrehten psychotischen Ex-Kindern aus untergehenden Mittelstandsfamilien und den sadistischen Ex-Kindern aus der Oberschicht bestehen und wäre gut gerüstet für das neue Zeitalter.“

 

„Das sind kemal und Pavel. Kinder von irgendwelchen Einwanderern, die in letzter Zeit gehasst werden, und zwar zu Recht, und zwar, weil sie Schuld an der Klimaerwärmung sind. Und der Privatisierung. Und der Steuerhinterziehung durch Konten auf den Cayman Islands.“

 

„Prost auf die Klischees.“  

 

"Könnten wir das nicht ein klitzekleines bisschen ändern?"

Ein fiktives Gespräch zwischen der Autorin Hanya Yanagihara und ihrem Verleger vor der Veröffentlichung ihres Romans „Ein wenig Leben“.

 

 

Verleger: Gut, Sie zu sehen, Frau Yanagihara. Ihr letztes Buch lief ja durchaus passabel. Haben Sie denn schon was Neues für uns?

 

 

Yanagihara: In der Tat. Ich bin da an etwas sehr Spannendem dran. Die Hauptfigur ist ein schwer traumatisierter Mann, der als Junge brutalen sexuellen…

 

 

V.: Entschuldigung, wenn ich unterbreche. Aber Missbrauchsopfer sind ein Show-Stopper. Klingt harsch, aber da sind sich sämtliche Marketingexperten der großen Verlage einig. Das Thema bietet nur Beklemmung und keinen Mehrwert. Romanleser interessieren sich auch nicht für das Leben von geistig Behinderten.

 

 

Y.: Also bitte! Was ist mit Jessica Jones? Der Netflix-Serie?

 

 

V.: Dürfte ein Flop werden, obwohl es wenigstens mit Action, Crime und Fantasy gemischt ist. Im Thriller-Business geht so etwas – siehe Stieg Larsons Trilogie, aber nur, wenn Sie a) mächtig dick auftragen und b) die Traumasuse nicht die Hauptfigur ist. Aber wir reden jetzt hier doch über Literatur. Weltliteratur. Erfolgreiche Weltliteratur – wenn Sie verstehen, was ich meine.

 

 

Y.: Das Thema ist welthaltig. Und es geht uns alle an. Und ich beschäftige mich seit...

 

 

V.: Jajaja. Können Sie es nicht im Buch verstecken? Bauen Sie ein trojanisches Pferd, einen Plot um Liebe, Freundschaft oder die Weisheit des Gärtnerns.

 

 

Y.: Hmm. Freundschaft ginge vielleicht.

 

 

V.: Gut. Sehr gut.

 

 

Y.: Also, es wird um vier Männer gehen. Sie sind alle befreundet. Aber der Traumatisierte ist so verschlossen, dass sich alle von ihm abwenden. Die Anderen ertragen ihn einfach nicht mehr und können mit seinen Süchten und Zwängen und seiner Reizbarkeit nicht umgehen. Mit dem, was er bei ihnen auslöst.

 

 

V.: Stopp! Niemand will lesen, wie sehr Traumatisierte nerven und wie überfordert wir alle davon sind.Könnten die Freunde nicht eine Engelsgeduld haben? Alles verzeihen, alles verstehen?

 

 

Y.: Aber das wäre dann ja wie ein Märchen?

 

 

V.: Ja! Menschen mögen Märchen. Im Gegenzug dürfen Sie die Täter, also die Männer, die den Jungen missbrauchen…

 

 

Y.: Es ist eine Frau.

 

 

V.: Stopp! No-Go. Also bitte! Wollen Sie Bücher verkaufen oder wieder bei Starbucks...

 

 

Y.: Gut, von mir aus können es auch Männer…

 

 

V.: Genau. Und die zeigen sie so kaltschnäuzig und dehumanisiert wie möglich. Komplette Monster. Verstehen Sie? Engel hier, Teufel da!

 

 

Y.: Hmm, ja, aber gerade so ist es ja eben nicht, sondern…

 

 

V.: Papperlapapp. Ich weiß, was Leser wirklich bei der Stange hält.

 

 

Y.: Na gut, also die vier Freunde schlagen sich in New York durch, helfen sich, aber die Hauptfigur…

 

 

V.: Eine der Hauptfiguren!

 

 

Y.: Also Jude St. Francis, der Traumatisierte – er scheitert im Berufsleben. Er ist viel zu kaputt, um sich dauerhaft konzentrieren und in Hierarchien einordnen zu können. Seine inneren Verwundungen, sein Misstrauen, seine Panikattacken, seine Depressionen, seine Alkoholsucht und seine Depersonalisationen kosten ihn so viel Kraft, dass er weitgehend arbeitsunfähig….

 

 

V.:  Mooo—ment! Könnten wir das nicht ein klitzekleines bisschen ändern? Mein Vorschlag: Ja, der Typ ist voll kaputt, aber mega-erfolgreich.

 

 

Y.: Hä?

 

 

V.: Ja. Ich stelle mir das so vor: schwer traumatisiert, aber voll belastbar. Nachts ritzt er sich, morgens schwimmt er drei Kilometer in seinem Privatschwimmbad, dann arbeitet er 12 Stunden oder mehr in einer Top-Anwalts-Kanzlei.

 

 

Y.: Aber das wäre doch eine Verhöhnung der Menschen, die durch posttraumatische Belastungen so sehr eingeschränkt sind, dass…

 

 

V.: Im Gegenteil! Es zeigt, wozu man auch als schwer Gebeutelter noch im Stande sein kann. Das lieben die Leute! Triumph des Willens! Die Neidischen können sich dann sagen: Okay, er ist reich und extrem gutaussehend…

 

 

Y.: Extrem gutaussehend?

 

 

V.: Ja, na klar. Sie müssen diese Traumascheiße doch irgendwie kompensieren. Jessica Jones ist doch auch ganz ansehnlich. Also: Die Neidischen sagen sich: Reich ist er ja, aber ein Psycho. Und die, die selbst betroffen sind, oder so, die können sagen: Hmm, wenn ich mich mal ein bisschen zusammenreiße, werde ich vielleicht auch noch Millionär. Wie klingt das?

 

 

Y.: Total hanebüchen.

 

 

V.: Dann schreiben Sie das. Und schreiben Sie das einfach so runter. Jeden Tag 20 Seiten, okay? Keine Angst vor Kitsch, Soap-Opera-Dialogen, Längen. Wir kürzen das dann später noch ein bisschen. So auf 1000 Seiten, oder so. Was meinen Sie?

 

 

Y.: Ich , äh…

 

 

V.: Na also. Ich wusste doch, dass Sie auch weiter mit uns zusammenarbeiten wollen. Glas Sekt?

 

P.S.: Der Roman hat durchaus seine Stärken: fesselnde Passagen, ernsthafte Einfühlung in spezifische Probleme eines schwer gezeichneten Menschen, ein fluides Verständnis der Konzepte "Liebe" und "Freundschaft" bzw. "hetero-" und "homosexuell". Außerdem enthalten: schöne Überlegungen und Inspirationen zu den Themen "Freundschaft", "Erfolg" und "New York", das wie ein weiterer Charakter in der Geschichte wirkt. Aber wenn ich der Lektor gewesen wäre... wäre es ein Flop geworden. Hihi. 

 

Hochsensibel oder vollbescheuert?

 

 

An einem düsteren, trüben und stillen Herbsttag, an dem die Wolken tief und schwer am Himmel hingen, war ich viele Stunden ganz allein durch eine seltsam trostlose Gegend gefahren und sah plötzlich, als die Abendschatten sich schon niedersenkten, das melancholisch umdunkelte Anwesen der Therapeuten Roderick Werther und Franz Ascher. Ich parkte, stieg aus und hielt inne. Mir war, als umgebe den alten Herrensitz ein widernatürlicher Dunst, ein kaum sichtbares Miasma, gleich der feurig leuchtenden Gloriolen bestimmter enorm wuchernder Phantasiegewächse, die ich einst unter dem Einfluss des angeblichen Traumblockers Hyperhypnol F in fiebrigen Nachtgesichten erblickt hatte. Vielleicht hatte jedoch auch bloß das stundenlange Fahren meine Augen ermüdet, denn als ich sie einmal gründlich rieb, verschwand der spukhafte Schleier.                                                           

 

Das Anwesen umringte ein seinerseits von Röhricht gesäumter Teich, so dass ich bald über eine Brücke schritt, zu deren Seiten schwarze Wasser entenbetupft und freudlos dümpelten. Ich seufzte und schickte mich an, ein paar Zeilen des bekannten Vanitas-Gedichtes von Gryphius zu zitieren, hielt dann aber inne und fragte mich, ob ich eigentlich noch alle Latten am Zaun hatte. What the fuck hatte ich mir gedacht, als ich auf meine Freundin gehört und mich bei Werther und Ascher zum Wochenendseminar „Hochsensibel – Herausforderung und Chance“ angemeldet hatte? Ich war ein ganz normaler Mann des 21. Jahrhunderts, also ein durchaus eigensinniger Individualist und markanter Charakter, aber sicher nicht hochsensibel. „Hochsensibel“, diese Modevokabel diente doch lediglich als wohlwollende Umschreibung für vollneurotische Barfußtänzer, die ganztags mit Ohropax und Sonnenbrille quasitraumatisiert durch die Gegend huschten, vorzugsweise reizarme Kost in zisalpinen Schweigeklöstern mümmelten und in wehleidigen Zärtel-Zirkeln über ihre vermeintliche Sonderbegabung a.k.a. Vollmeise schwadronierten. Ich hingegen aß stark gewürztes Fleisch, hörte krachige Musik, sah gerne reizüberflutende Filme und sah mich auch sonst eher als extrovertiertes, ja durchaus robust-rustikales Raubein. So hatte ich beispielsweise jüngst im Kino einem übel schmatzenden Popcornesser kurzerhand seine nach zuckrigem Stutenurin müffelnde Tüte entwendet, um mich in Ruhe auf den verwickelten Zeichentrickfilm „Ritter Rost 2 – das Schrottkomplott“ konzentrieren zu können. Auf dem Heimweg hatte meine Freundin in ungewöhnlich scharfem Tonfall gesagt: „Ich kann für dich nur hoffen, dass du hochsensibel bist, denn sonst bin ich mit meinem Latein am Ende.“                    

 

Zu Hause hatte sie mich zum Ausfüllen eines Online-Test auf der Homepage „Zartbesaitet“ gedrängt und mein Testergebnis hatte eine beachtliche, ja vielleicht sogar erschreckende Hochsensibilität nahegelegt. Natürlich, so funktionierten ja die Tests auf solchen Seiten! Hochsensibel, wenn ich das schon hörte! Ich hätte aus der Haut fahren können! Hochsensibel war höchstens meine Freundin, vor allem, wenn es um sogenannten Dreck, sogenannte Sozialkompetenz oder sogenannte Aggressionsprobleme ging. Herrschaftszeiten, ich hatte nach dem Film dem Kind seine Scheißpopcorntüte ja wiederzugeben versucht, und der Mutter ihre übelkeitserregenden Nachos samt Salsa, aber die beiden Stumpfmampfer waren ja schon kurz nach meiner pädagogischen Maßnahme vor mir weggelaufen. Ist es denn meine Schuld, wenn manche Menschen so hyperempfindlich reagieren, obwohl sie sich selbst alles andere als sensibel betragen? Und wie konnte meine sonst so skeptische Freundin nur an das Ergebnis eines Online-Tests glauben? Solchen halbseidenen Spielereien zufolge hatte ich auch Führungsqualitäten, eine Essstörung, eine sexsüchtige Mutter und einen IQ zwischen 139 (Welt-Online) und 95 (Go-Feminin).                    

 

Aber schließlich hatte ich nachgeben. In einer Beziehung sollte man von Zeit zu Zeit einmal guten Willen zeigen. Davon abgesehen brachte es mir wahrscheinlich künftig argumentative Vorteile, wenn ich mich von irgendeinem gewieften Quacksalber als hochsensibel zertifizieren ließ.                                                                                               

 

Nun stand ich also in der Empfangshalle von Werther und Ascher und in eben dieser einem Lakai gegenüber, der mich förmlich begrüßte und mir Mantel und Koffer abnahm, um sie zu meinem Zimmer zu bugsieren. Sogleich verkrampfte sich mein Herz in einer plötzlich aufwallenden Bedrückung. Warum musste der arme Mann aufgrund gewiss rein zufälliger Umstände für ein sicher geringes Entgelt mir zu Diensten sein? Ja, sollten wir nicht alle Freie unter Freien sein? Und verriet mir nicht die starke Pigmentierung des Instant-Servilen, dass die gut betuchten Therapeuten womöglich Kapital aus ethnisch bedingten Ungleichgewichten zogen und ich, indirekt, aber doch augenscheinlich, von diesem offen praktizierten Rassismus mitprofitierte? Bevor mir noch unwohler zumute wurde, machte ich mir Luft und sagte: „Oh Mohr, trage mir nicht Mantel und Koffer, die ich selbst tragen kann. Auch finde ich selbst zum Zimmer. Mache er sich lieber einen lauen Lenz, denn ich ertrage dieses Elend nicht.“ Verblüfft händigte mir der Schwarze meine Sachen aus und warf mir einen verstimmten Blick zu. Erst später begriff ich, dass sich der Diener ein Handgeld von mir erwartet und ich ihm dies mit meiner Schrulligkeit verhagelt hatte. Sofort schämte ich mich und wollte gerade zu dem Unglücksraben umkehren, als mir im Flur zu meiner Unterkunft ein schwarz gewandetes Mädchen entgegenschwebte. Seine kajalumflorten Augen trugen tintige Trübnis zur Schau, wie man sie nur zu gut von Karpfen in Badewannen zur Silvesterzeit kennt, und sogleich schoss mir eine Szene aus meiner Kindheit in den Kopf, zu grauenhaft, um hier erwähnt zu werden. Des Mädchens Obergewand zierte ein Pentagramm in Herzform, derweil auf ihrem durchaus handfesten Schuhwerk Blumen und Totenschädel ein mich sonderbar innig anrührendes Muster bildeten.                                                                                  

„Hallo“, flüsterte die jung Erbleichte kaum hörbar. Hätte mir nicht bereits ihr Blick ihre ganze Bedürftigkeit aufgeschlüsselt – spätestens jenes scheinbar schlichte, wahrhaftig aber vehement an mir nestelnde Grußwort hätte mir die Augen für die Situation geöffnet. Das gute Kind schritt am Rande abgründiger Verzweiflung, hatte sich in zunehmend plausibel erscheinenden Selbstmordgedanken verhakt und suchte nun eine väterliche Schulter, um sich anzulehnen und den zerborstenen Glauben an die Güte der Welt zumindest notdürftig zusammen zu leimen. Ich spürte die gierige Not des Mädchens wie eine in meiner Brust wühlende Stahlklaue. Dabei stand ich noch ganz im Bann der aufwühlenden Begegnung mit dem Dienstboten und brauchte selbst Hilfe. Unter dieser grauenhaften Bedrängnis ächzte ich in äußerster Notwehr: „Lass mich, du grässlicher Trauerkloß!“ Dann ging ich weiter, ein blutendes Herz in der Brust, zerrissen zwischen dem Wunsch zu helfen und der Einsicht in die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens. Nach ein paar Metern blickte ich mich verstohlen nach dem Mädchen um und sah wie es sich unleidlich am unteren Saum seines schwarzen Oberteils zupfte. Der billige Stoff saß spack und besaß obendrein sicher nicht jene elastische Viskosität, die heikle Häute benötigen, um sich nicht belästigt, ja vom Textil geradezu sexuell missbraucht zu fühlen.                                                                                                             

Als ich mein Zimmer aufschloss, fühlte ich mich etwas schwach in den Beinen. Was war ich nur für ein Grobian. Dem Diener hatte ich kein Geld gegeben, das Mädchen hatte ich unwirsch zum „Trauerkloß“ erklärt, anstatt einfach stillschweigend seinen als Begrüßung getarnten Übergriff zu ignorieren. Brauchte ich wirklich noch mehr Beweise für meine geringe Sensibilität? Ich schüttelte mich und sagte mir laut „Reiß dich zusammen, verdammt!“, so wie es mir meine Mutter früher wieder und wieder gesagt hatte, zum Beispiel nachdem ich im Kindergarten einen Vormittag lang toter Mann gespielt hatte, um meine Ruhe vor den sinnlos in der Gegend herumlärmenden Restkindern zu haben.                                    

 

Ich betrat mein Zimmer, sah dessen Einrichtung und brach in Tränen aus. Wie liebevoll schlicht die Vorhänge von dieser grundgütigen Gardinenstange hingen! Wie hübsch und achtsam man ein elegantes Tischchen mit frischen Blumen drapiert hatte, die – welch seltenes Glück! – nicht abgeschnitten in einer Vase voll modernden Wassers ihrem Ende entgegenwelkten, sondern frisch aus einem handbemalten Töpfchen voller schosshaft riechender Blumenerde strotzten!                                                                                   

„Spinn jetzt nicht rum, du Memme“, herrschte ich mich mit einer inneren Stimme an, die der meines Vaters glich. Früh waren ihm meine Tränen verhasst, ganz gleich ob ich sie vergoss ob der hilflos gegen die Fenster fliegenden Fliegen, oder wegen der Schnecken, die kein Haus besaßen. Und er hatte ja Recht. Manchmal ließ ich mich auch heute noch gehen und driftete von einem sentimentalen Gefühl in das nächste, anstatt dieser Flut aus bald süßlichen, bald bitteren Empfindungen Einhalt zu gebieten und meine flatterhaften Gedanken auf Nüchtern-Pragmatisches zu lenken. Ich griff in mein Jackett und beförderte einen Flachmann zutage, dessen hochprozentigen Inhalt als pragmatisches Nerventonikum zu nutzen mir eine mannhafte Vernunft befahl, obwohl meine Freundin behauptete, just jene wohlfeile Medizin habe mein Nervenkleid im Laufe der Jahre ausgefasert, ja völlig zerfranst und zerrieben. Immerhin bestritt ich so mein Abendessen, ohne zu völlig fremden Menschen in einen möglicherweise zugigen Speisesaal hinabsteigen zu müssen, noch dazu pünktlich um 19.30 Uhr, wodurch ich mich unerhört unter Druck gesetzt fühlte. Nach dem Genuss des gesamten Flachmann-Inhaltes schlief ich ganz normal ein.                                                                    

 

Nachts weckte mich der obszöne Duft der geilen Blumen und ich musste sie ins Bad stellen, wo ich mich auch gleich am Strahl des Wasserhahns gütlich tat. Das köstliche Nass hatte in dieser Region ein mineralisches Bukett, einen durchaus femininen Korpus und offenbarte im Abgang Nuancen von Muskat, Cassis und Roggenbrot. Erquickt drehte ich den Hahn ab. Die plötzlich einsetzende Stille traf mich wie ein Schock, und mit einem Mal erschien es meinem Gehör, als vernähme es das Knuspern von Altweltmäusen – genauer gesagt Dachratten der Art Rattus rattus – aus dem mir unsichtbaren Gebälk des Gemäuers, wobei ich zu empfinden meinte, dass die zaghaft knabbernden Nager irgendetwas bedrückte, vielleicht lediglich eine sachte nächtliche Melancholie, wobei diese Gefühlslage sogleich in die meinige hinein diffundierte und ich – blitzartig der Vergänglichkeit und ausweglosen Sinnlosigkeit alles Lebendigen eingedenk – eine gestochen scharfe Phantasie entwarf, in der ich mich per Pistolenschuss in den Mund tötete und schließlich als ruheloser Geist über meiner eigenen Beerdigung schwebte, auf der die wenigen Anwesenden nicht allzu traurig erschienen. Dann aber riss mich ein fieses Kribbeln aus der Träumerei und ich lupfte meine Pyjamahose, um an meiner Leiste einen nässenden Ausschlag zu vergegenwärtigen, just auf der Höhe, auf der das karpfengesichtige Mädchen an seinem Oberteil gezupft hatte. Mir wurde mulmig zumute. Vielleicht handelte es sich bei der in schwarzen Kleidern wandelnden Weißwurst um eine Hexe. Natürlich glaubte ich nicht an derlei volkstümliche Schnurren, aber in diesem Gemäuer der knuspernden Ratten, vor dessen Fenstern ein stürmischer Boreas schwarze Wolken rasend schnell über ein durch Wetterleuchten und Mondlicht angestrahltes Himmelsgewölbe trieb, als seien es die zerfetzten Leichentücher auferstandener Grabgestalten, da… hatte ich den Anfang meines Satzes verloren. Meine Mulmigkeit steigerte sich zu einem Hintergrundgrausen. Zwar war ich keinesfalls abergläubisch, aber ich fürchtete, mich nun doch fürchten zu können und durch diese Furcht schreckliche Wirkungen herauf zu beschwören, wäre ich doch nicht der erste, der nicht durch die Verhexung selbst sondern durch die Angst vor Verhexung der Krankheit, dem Wahnsinn und schließlich dem Tod anheimfällt, ja, wir naturwissenschaftlichen Geister können nicht verflucht werden, wenn wir uns nicht selbst verfluchen, aber mit meinen Gedanken war manchmal eben nicht gut Kirschen essen und also packte ich so rasch wie möglich meine Sachen und flüchtete aus dem Hause Werther und Ascher. Auf der Brücke warf ich noch einmal einen Blick zurück und glaubte, illuminiert vom widerwärtigen Gefunkel des tot durchs All driftenden Erdtrabanten – oder war es doch das flammenfarbene Miasma? –  einen kaum dingerficken… quatsch…fingerdicken Riss zu sehen, der von den Zinnen des Gemäuers bis hinab in die schwarzen Wasser zickzackte.          

 

Das restliche Wochenende verbrachte ich zur Sammlung in einem mecklenburgischen Gasthaus namens „Hasenkrug“ und aß Ente und Klöße. Was sollte ich meiner Freundin sagen? Wollte ich fortan als hochsensibel, neurotisch, verzogen, etwas kompliziert, Posttraumatiker, co-abhängiger ADHS-Patient, Quartals-Borderliner, alles zusammen oder nichts von alledem etikettiert werden? Ich fand ja „eigen“ ganz gut, aber dem Wort mangelte es an Wissenschaftlichkeit. Auch „wahrnehmungsoriginell“ hatte etwas, allerdings entschuldigte mich der Begriff nur für die Art, wie ich die Welt sah, nicht wie ich mich darin verhielt. Just dies war aber der Knackpunkt: Meine Freundin vertrat die gewagte These, man sei für sein Verhalten selbst verantwortlich. Also nannte ich mich vielleicht lieber „neurotisch“, das klang weniger nach Handlungsfreiheit und Selbstverantwortung als „hochsensibel“. Anderseits klang es krank, und in „hochsensibel“ schwang immerhin „hochbegabt“ mit.                                                                                                                             

 

Ich ging in die Gaststube des Hasenkrugs, um bei einem Glas Fassbier weiter nachzudenken, als was ich gelten wollte. Der aus Berlin stammende Gastwirt zapfte und sprach währenddessen im Tonfall des versierten Schwadroneurs: „Hamse gehört? Na dit mit dem alten Anwesen von den Psychoheinis. Dit is jestern Nacht fast komplett abgebrannt. Jaja. Glaubensesmir ruhig. Eine von den Kranken hat ihr Zimmer angezündet. Wooosch! Noch n ganz junges Ding. Na, nu fangen se doch nicht an zu weinen.“                                                         

 

Augenblicklich riss ich mich zusammen, ich wollte nicht hochsensibel erscheinen. Also weinte ich nach innen weiter  und griff nach außen in eine Schale mit wie ohnmächtig daliegenden Erdnüssen. 

 

Mehr Distanz als Nähe

"Schwimmerbecken" von Ulrike Claudia Bleier

 

„Schon lange bevor ich zurückgekehrt bin an die Kollbach, wo alles angefangen hat mit dem Warten, schon lange davor hat Bruderherz kein Indonesisch mehr gesprochen, kein Malaiisch, er hat gar nicht mehr gesprochen, es habe sich seit einiger Zeit angedeutet, hat der Arzt gesagt, der Manfred heißt und mit dem ich manchmal essen gehe und danach zu den Häuslers, es hat sich schon angedeutet, habe ich gesagt, als er damals zurückgekehrt ist nach Kollbach und ich noch geblieben bin und auf ihn gewartet habe, schon da hat es sich mit all dem Malaiisch und Indonesisch angedeutet.“

 

„Bruderherz“ so nennt die Icherzählerin Luise in ihren auf 58 Episoden verteilten Erinnerungen ihren Zwillingsbruder Ludwig. „Bruderherz“ – der Begriff kann innige Verbundenheit aber auch ironische Distanz ausdrücken, und um beides – die große Nähe zum Bruder, als auch um die schließlich nicht mehr überbrückbare Distanz – geht es in den kurzen Kapiteln. Mit dieser Geschwisterbeziehung als Zentrum handelt „Schwimmerbecken“ allgemein von Nähe und Distanz – zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst. Zentrales Instrument, um sich mit einem Gegenüber zu verbinden, aber auch, um sich von allem zu distanzieren, ist die Sprache. Als Ludwig nach fünfjährigem Auslandsaufenthalt in das kleine bayrische Heimatdorf Kollbach zurückkehrt, spricht er nicht mehr die Sprache der Einheimischen, der Eltern, seiner Schwester. Stattdessen zieht er sich in eine Kunstsprache zurück, die Luise anfangs als „Indonesisch“ bezeichnet. Schließlich verstummt er. Auch die Schwester distanziert sich im Lauf der nicht chronologisch erzählten Ereignisse von ihrem Bruder. Zwar stellt sie wie eine Detektivin Nachforschungen über ihn an, aber gerade dadurch, dass sie ihn zu einem vielleicht lösbaren Rätsel erklärt, macht sie ihn vom Subjekt zum Objekt – die distanzierende Wirkung der Analyse.

 

Wenn es eine Erklärung für den Wahnsinn des Bruders gibt, der es auch noch in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Anstalt schafft, eine ganze Entenfamilie umzubringen, dann ist es eine Art kosmisches Unglück von Beginn an, eine nicht zu tilgende Schuld Unschuldiger: Ein drittes Kind stirbt im Mutterleib, Ludwig und Luise kommen ohne ihren Drilling zur Welt, von nun an begleitet von einem Gefühl von Schuld und Mangel. Zumindest ist das ein Interpretationsangebot, das die Icherzählerin aus den Aufzeichnungen ihres psychisch kranken Bruders ableitet. Anders gesagt: Die Schuld ist schon da, bevor man überhaupt das Licht der Welt erblickt – eine Vorstellung, die in das katholische Heimatdorf des Zwillingpaares passt und zur zyklischen Erzählweise des Textes: Es gibt keinen Anfang und kein Ende, wo die Schuld schon immer da war und Erlösung nicht in Sicht ist. Das erinnert an Thomas Bernhard, in dessen Universum die Existenz von vorneherein eine leidvolle und vor allem fragwürdige ist. An Thomas Bernhard erinnert auch die Schilderung der Provinz als unheilvollem Ort, an dem natürlich Katzen ertränkt werden, stumpfsinnige Frömmelei und reaktionäre Gesinnung Hand in Hand gehen und sich Mädchen vom Kirchturm stürzen. Eine dritte Parallele zu den Texten Bernhards ist die mit vielen Wiederholungen und Variationen arbeitende Erzählweise der Protagonistin. Erklärt werden diese Redundanzen mit Luises Neigung, sich in Gedanken hineinzusteigern, so dass Sätze wie diese entstehen: „…seine Augen sind unnatürlich blau, hat Bruderherz immer gesagt, findest du nicht, so blaue Augen hat doch kein normaler Mensch, hat mein Bruder immer gesagt, und jetzt merke ich, dass er Recht hatte. Das Blau in den Augen des Vaters verschwindet, von Tag zu Tag verblasst das Blau seiner Augen, je stärker die Bitterkeit zunimmt, desto verblasster das Blau seiner Augen, ich merke, dass ich mich in diesen Gedanken hineinsteigere, ich möchte mich nicht hineinsteigern, aber ich kann es nicht lassen.“           

 

Durch diese Erzählweise, in der sich Luise vom Rhythmus und Klang der Worte mitreißen lässt, entsteht ein auch Leser und Leserin mitreißender Gedankenstrom, der allerdings auch immer wieder einmal verlaberte Passagen mit sich bringt: „Charlie kann das Ei so aufschlagen, dass das Eiweiß von selbst in die Tasse rinnt, das Eigelb bleibt in der Schale. Sie muss nicht trennen, wie die Großmutter, die Großmutter hat das Eiweiß vom Eigelb minutenlang trennen müssen, bis es freiwillig in die Tasse gelaufen ist. Wahrscheinlich hat sie so lange gebraucht, weil es ihr Spaß gemacht hat, das akribische Trennen, mir selbst macht es auch Spaß, ein Ei akribisch zu trennen.“                                                                                                          

 

Wahrscheinlich sind mir solche vor allem vom Wortklang beflügelte Passagen deshalb besonders ins Auge gefallen, weil sich die Distanz der Erzählerin auf mich übertragen und mich das Buch oft lauwarm oder kühl gelassen hat, was nicht immer etwas schlechtes sein muss, es entsteht lediglich eine andere, oft genauere Rezeption. In „Schwimmerbecken“ finden sich grandiose, oft von subtilem Humor getragene Anekdoten (wie die mit dem Mädchen, das den Selbstmord seiner Freundinnen überlebte) und Schilderungen von Alltagsgegenständen und –verrichtungen, die durch luzide Beobachtung eine neue magische Dimension erhalten. Aber die Beziehungen der Figuren zueinander bleiben in meinen Augen bei aller Schärfe auch des psychologischen Blicks weitgehend Behauptung. Zu keiner Zeit spüre ich die Verbundenheit zwischen Bruder und Schwester, zu keiner Zeit ist mir der Bruder sympathisch, wird er doch von Anfang an in einem völlig unzugänglichen Zustand geschildert. Auch im Kleinen arbeitet der Text des Öfteren mit Bildern, die sich schick lesen, aber nicht Beobachtungen sondern Behauptungen entspringen: Jemand schwimmt, als teile sich das Wasser vor ihm. Die Familie redet miteinander in eingeübten Sätzen wie aus einer Gebrauchsanweisung, die sie in unterschiedlichen Betonungen aufsagt, die aber nie passen. Die Icherzählerin dreht sich an jeder Ecke um und versteckt sich, weil sie glaubt, ihr Bruder tauche auf.                                                        

„Schwimmerbecken“ ist wesentlich stärker in der Schilderung von Distanz, als in der Schilderung von Nähe – was vermutlich im Wesen vom Schreiben und Sprechen „über“ etwas liegt. Es ist ein origineller (Bleier ist eben keine Bernhard-Epigone!), eigensinniger, sprachmächtiger, durchaus auch nerviger ("Bruderherz!") Roman voller gelungener Miniaturen, zusammengehalten von einer durchgängigen heiter-bedrückten Atmosphäre, die nachwirkt. Trotz der erwähnten Schwächen ist es einer jener Bücher, an die man sich sehr wahrscheinlich noch erinnert, wenn gefälligere Romane längst vergessen sind.  

 

Ulrike Anna Bleier: Schwimmerbecken. edition lichtung 2016, 160 Seiten, 16,90 Euro

 

Menschlichkeit als Antithese

"Abschlussball" von Jess Jochimsen

 

„Am meisten mag ich die Schüler, die gar nicht Trompete lernen wollen. Jene, die ihr Köfferchen lieber zulassen würden, die mich in Gespräche verwickeln und sich die unglaublichsten Ausreden einfallen lassen, warum sie in der letzten Woche wieder nicht zum Spielen gekommen sind.“

 

 

Marten ist Mitte dreißig und Beerdigungstrompeter. Auf dem Münchner Nordfriedhof fühlt er sich wohl, denn dieser Ort ist ruhig, klar strukturiert, gut ausgeschildert und kaum von Lebendigen bevölkert. Es sei denn, es ist Abschlussball. So nennt Bestatter Berger die anonymen Armenbegräbnisse, zu denen er eine richtige Friedhofs-Party schmeißt. Er organisiert von Stiftungsgeldern und aus Spenden Redner, Musiker und eine Cateringfirma, auf dass sich die ansonsten unbemerkte „Abschiedsmaßnahme“ eines Obdachlosen oder völlig Vereinsamten in eine handfeste Sause verwandelt, bei der die Schnorrer und schrägen Vögel zusammenkommen. Auf einem solchen Abschlussball wird ein ehemaliger Klassenkamerad von Marten zu Grabe getragen: Wilhelm Schocht, damals der Schwarm vieler Mädchen und ein souveräner Überflieger, dem die ganze Welt offenstand. Marten fragt sich, was aus Wilhelm im Laufe der Zeit geworden ist und wer anonym 50.000 Euro für die Beerdigung gespendet hat. Schließlich findet er sogar Wilhelms Kreditkarte.                                                                                                                                                     

 

Laut Klappentext beginnt nun für Marten „eine groteske Irrfahrt“. Er wird „in einen Strudel merkwürdiger Ereignisse gezogen und lernt kennen, wovon er sich Zeit seines Lebens so mühsam ferngehalten hat: andere Menschen, Geld, Abenteuer, die Liebe.“ Kurzum: Glaubt man dem Klappentext, dann muss der „wundersame Lebensverweigerer“ nun „das Abenteuer seines Lebens bestehen.“                           

 

Gut, wer eine Fahrt in einem Paternoster für eine groteske Irrfahrt und eine halbstündige S-Bahn-Reise nach München-Zorneding oder die Kommunikation mit einem Unbekannten via Online-Banking-Verwendungszweck für waschechte Abenteuer hält, wird sich durch den Klappentext nicht getäuscht sehen. Robustere, weltgewandte Naturen könnten hingegen spitzfindig werden und einwerfen: Selten wurde ich so genasführt. „Hier passiert nichts, was dramatischer wäre, als das, was ich Tag für Tag und Woche für Woche erlebe!“                                                                                 

 

Aber: Das ist ja der Witz! Der Icherzähler Marten fühlte sich als Kind schon alt und meistens müde. Der ungelenke Elan der Jugend geht ihm ebenso ab, wie die Gier der Erwachsenen nach Geld, Anerkennung, Sex. Martens Kräfte sind durch anderes gebunden. Man kann es eine Depression nennen, muss man aber nicht. Die Stärke von Jess Jochimsen besteht nun darin, diesen scheinbar langweiligen Menschen und sein scheinbar langweiliges Leben mit Wärme, Witz und einer großen Liebe für das Kauzige so zu schildern, dass eine Paternoster-Fahrt tatsächlich zu einem Abenteuer wird.

 

Der Roman ist eine phantastische Antithese zum Höher-Schneller-Besser einer Selbstoptimierungs-Gesellschaft auf dem Weg in jenes Ausgebranntsein, das Marten schon von Kindesbein an verspürt. In einem längeren, zweiten Teil erfahren wir genug über das Vorleben des Protagonisten, um seinen Zustand überhaupt nicht unplausibel zu finden, ohne dass viel erklärt oder herumpsychologisiert wird. Danach tritt das Buch dramaturgisch einerseits halbwegs auf der Stelle, zeigt aber andererseits, dass es vermutlich gar nicht so wichtig ist „Voranzukommen“, sondern auf die Details am Wegesrand zu achten: Die Begegnung mit einem norddeutschen Gebetskettenschnitzer, der Erwerb eines taubenblauen Anzugs im Keller des 80-jährigen „Ridler junior“, die Lektüre einer „unvollständigen Geschichte der Begräbnis-Violine“, die Reflexion über Text und Musik von „Muss i denn zum Städtele hinaus“. Dazu gibt es noch ein paar Einsprengsel aus dem Œuvre des extrem übellaunigen und kryptofaschistischen Dichterphilosophen E.M. Cioran. Der rumänische „Privatnachdenker“ mag eine gute Illustration dafür sein, dass eine (modische) Affäre mit Nihilismus und radikaler Kulturkritik, bald zu einem Stelldichein mit deren fieser Schwester, der faschistischen Kraftmeierei, führt – für Jochimsens Buch allerdings ist die ohnehin nur gestreifte Auseinandersetzung mit Cioran verzichtbar.                              

 

Trotz einer Überzahl an Motiven und einer etwas konstruierten und kaum nötigen Dramaturgie ist „Abschlussball“ ein im Tonfall konstant souveräner, enorm warmherziger, höchst eigenständiger und sehr gut lesbarer Roman über das Verdrängte: Das Nicht-Funktionieren-Können, das Altern, das Scheitern, das Sterben, die Trauer und den Tod. Und natürlich ist es ein Buch über das Leben, die Freude, die Schönheit des Augenblicks und die Liebe in ihren vielen, oft unscheinbaren Facetten, die sich erst dann entfalten kann, wenn eben nicht länger verdrängt und abgespalten wird. Marten, der Looser, das sind wir, und wir sind wie er: im Herzen Helden – vor den Augen der Welt verborgen.  

 

 

Jess Jochimsen: Abschlussball. dtv 2017, gebundene Ausgabe, 312 Seiten, 20 Euro

 

Boulevard der Wahnwichtel

(erschienen in Christ & Welt 30.12.2014)


Was die Islamisierung des Abendlandes, die jüdische Weltverschwörung und die Unterwanderung durch außerirdische Echsenmenschen gemeinsam haben

 

Viele der 19 Pegida-Forderungen sind Common Sense. Wer ist schon für Sharia-Gerichte in Deutschland? Dass sie verboten sind, dürften die meisten – auch muslimischen – Deutschen begrüßen. Gesetzliche Realität ist das ohnehin. Wenn ein paar Islam-Hipster in von Mutti mit „Scharia-Police“ bedruckten Müllmannwesten durch Wuppertal flanieren, wird das als illegale Amtsanmaßung geahndet und von der Kanzlerin scharf verurteilt. In Punkt drei des 19-Punkte-Programms heißt es: „Pegida ist für dezentrale Unterbringung der Kriegsflüchtlinge und Verfolgten, anstatt in teilweise menschenunwürdigen Heimen!“ Eine zentrale Unterbringung von Kriegsflüchtlingen ist ohnehin für niemanden erste Wahl.

Wenn die europäischen Patrioten aber nur das fordern, was eh umgesetzt ist oder worüber sich durchaus sinnvoll debattieren lässt – warum dann die ganze Aufregung? Ganz einfach: Wer gegen die Islamisierung des Abendlandes protestiert, behauptet damit, dass diese Islamisierung stattfindet oder mit großer Wahrscheinlichkeit stattfinden könnte. Sonst wären die Demos so sinnlos wie Aufmärsche gegen die Abschaffung der Weihnachtsmärkte.

 

Hinter dem Begriff „Islamisierung“ verbirgt sich ein geschlossenes Gedankengebäude der neuen Rechten. Es stand schon, bevor in Dresden die ersten Pegida-Demonstranten aufmarschierten. Seit Jahren machen Internet-Blogs wie „Politically incorrect“ (pi-news) Stimmung gegen eine gefühlte Überfremdung, gegen die „Islam-Lobby“; Muslime oder Menschen, die irgendwie so aussehen, werden zu Feinden der  Gesellschaft erklärt. Besonders perfide ist dabei die Behauptung, die vielen deutschen Muslime, die sich von dem Chauvinismus eines politischen Islam oder den reaktionären Ansichten der rund 7000 deutschen Salafisten distanzieren, täuschten gemäßigte Ansichten in Wirklichkeit nur vor; tatsächlich aber seien sie Radikale, die den Westen unterwerfen wollen. Dabei berufen sich die „Islamkritiker“ auf den Begriff „Taqiyya“ (arabisch: Furcht, Vorsicht), ein Prinzip, das es dem Muslim gestatte, sich im Feindesland zu verstellen. Ein solcher Generalverdacht zementiert ein eindeutiges Freund-Feindbild, ohne überprüft werden zu können. Zwar heißt es in Pegida-Forderung Nummer 10: „Pegida ist für den Widerstand gegen eine frauenfeindliche, gewaltbetonte politische Ideologie, aber nicht gegen hier lebende, sich integrierende Muslime!“ Aber warum muss eigens eine Bewegung für Forderungen gegründet werden, die eh von der großen Mehrheit in unserem Land unterstützt werden?

 

Es gibt Fakten und es gibt die Interpretation der Fakten. Wenn ein Hagelschauer mein Bohnenbeet verwüstet, ist das ein Faktum. Ich kann es verschieden interpretieren: Ich kann zum Beispiel sagen, es handelte sich um ein zufälliges meteorologisches Ereignis. Ich kann auch sagen, ein Hexenzauber habe den Hagel auf mein Beet gelenkt, schuld sei eindeutig die alte, halbwahnsinnige Witwe nebenan. Wenn wir sie nicht unschädlich machen – wer weiß, was dann noch alles passiert? Der Interpretation von Fakten kommt also eine große Bedeutung zu, weil sie zu nützlichen, unnützlichen oder zerstörerischen Handlungen führen kann. Eine entscheidende Frage ist also: Wie unterscheide ich vernünftige von unvernünftigen Interpretationen?

 

Die Interpretation mit der Hexe ist attraktiv. Sie bietet eine spannende Story, arbeitet mit dem konkreten Bild der seltsamen Witwe von nebenan und bietet eine emotional befriedigende Erklärung dafür, warum mir so etwas Schlechtes passiert: Ein böser Mensch hat das absichtlich verschuldet, und ich kann etwas dagegen tun, indem ich den schlechten Menschen bekämpfe. Es ist verführerisch, so zu denken, denn niemand von uns ist gerne dem Zufall ausgeliefert. Schauen wir uns aber diese Interpretation genauer an, sollten sich Zweifel einstellen. Wie kann ich überprüfen, ob die Alte wirksam Hagelschauer auf Beete zaubern kann? Gut, ich könnte sie verhören und schließlich foltern lassen, aber unter der Folter würde sie vermutlich auch gestehen, dass sie eigentlich ein vom Mars kommender Schweinswal ist und Massenvernichtungswaffen im Irak versteckt hat. An sichere Fakten komme ich so nicht. Ein ernstzunehmender Beleg wäre, wenn die angebliche Hexe vor Zeugen einen Hagelschauer auf ein von ihr bestimmtes Feld heruntergehen ließe. Ein Wissenschaftler würde da sogar eine ganze Versuchsreihe machen, bevor er vorsichtig von einem halbwegs gesicherten Ergebnis spricht. Kann ich den Zusammenhang von Hexerei und Hagelschauer aber nicht überprüfen, dann sollte ich sehr, sehr vorsichtig sein, gerade wenn ich wirklich Lust habe, jemandem den Hals umzudrehen, weil meine Bohnen im Eimer sind.

 

Gehe ich dieser Interpretation nämlich nach, öffne ich die Tür zu einem unvernünftigen Denken, das schnell außer Kontrolle gerät und zu den schrecklichsten Handlungen führt. Was mache ich, wenn die angebliche Hexe getötet wurde und der nächste Hagelschauer kommt? Anstatt zu sagen: „Ups, geirrt!“ muss jetzt natürlich eine neue Hexe her. Vielleicht brauche ich bald auch Hexen, wenn ich Erektionsprobleme habe oder mein Kind stottert. Plötzlich zeigt mich ein Nachbar an, ich hätte gehext. Der Beweis? Seine Hühner wurden von einer unbekannten Krankheit dahingerafft. „Moment“, will man dann rufen, „das ist doch Blödsinn!“ Aber jetzt ist es zu spät, denn der Blödsinn hat sich längst in den Köpfen der Gemeinschaft breitgemacht. Jetzt ist alles möglich. Vielleicht sind ja auch die meisten scheinbar frommen Christen längst Hexen bzw. Muslime, die sich verstellen, um das Abendland zu unterwandern.

 

Führende Nationalsozialisten haben gewusst, dass Menschen anfällig für genau diese Art von wahnsinnigem Denken sind. Sie haben uralte Klischees und Vorurteile über Juden so oft wiederholt, bis sie auf viele Menschen wie Fakten wirkten. Es gab ja tatsächlich reiche jüdische Bankiers – und eine schlimme Wirtschaftskrise, die vielleicht irgendwie mit diesen Bankiers zusammenhing. Es gab die Protokollen der Weisen von Zion, die den Plan einer jüdischen Weltverschwörung zu dokumentieren vorgaben. Sie stellten sich zwar als Fälschung heraus, aber das hält bis heute manche Verschwörungstheoretiker nicht davon ab, mit diesen Protokollen Gedankengebäude zu begründen, die sich kaum unterscheiden von denen der Hexenjäger. Die Nazis hatten kein Problem damit, die Juden gleichzeitig als kapitalistische Wucherer und als bolschewistische Linke zu diskreditieren und zu verfolgen. Wenn man die Logik zugunsten von Vorurteil und Ressentiment aufgegeben hat, dann geht alles.

 

Woher ich weiß, dass die Protokolle der Weisen von Zion eine Fälschung sind, fragt der Verschwörungstheoretiker. Ich weiß es nicht zu 100%, so wie ich auch nicht genau weiß, wie ein Hagelschauer entsteht und warum er da oder dort niedergeht. Das Allermeiste weiß ich nicht und kann es auch nicht mal eben mit den eigenen Sinnen überprüfen. Kreist die Erde wirklich um die Sonne? Gibt es die Antarktis wirklich? Was ist mit der Mondlandung? Ich muss das Meiste aber auch nicht 100% wissen, weil es für mich nicht handlungsrelevant ist.

 

Wollte ich aber gegen Hexen oder gegen den Glauben an die Antarktis mobil machen, bräuchte ich sehr starke und überprüfbare und kritisch belastbare Argumente. Wenn ich sage, die Medien und die etablierten Wissenschaften lügen und täuschen uns, müsste ich mindestens ein Fakten-As im Ärmel haben. Sonst würden mich Menschen, die ihre Vernunft gebrauchen, zu Recht als Spinner bezeichnen. Aber für den Spinner ist das nur ein weiterer Hinweis darauf, dass die Verschwörung schon im vollen Gange ist. Das ist das Schöne an unüberprüfbaren Hirngespinsten: Sie sind kritikresistent.


Unter etlichen Weihnachtsbäumen liegt dieses Jahr ein Buch aus dem auf Verschwörungstheorien spezialisierten Kopp-Verlag. Udo Ulfkotte hat mit „Gekaufte Journalisten“ mal wieder einen alarmistischen Bestseller veröffentlicht. Darin betreibt er im großen Stil, was er den „Mainstreammedien“ vorwirft: Absichtlich falsch interpretierte Zitate, aus dem Kontext gerissene und verdrehte Informationen, falsch gelesene Statistiken. Stefan Niggemeier hat sich die Zeit genommen, einige der Fehlschlüsse des Buches zusammenzutragen; das vernichtende Ergebnis hat er am 24.10. 2014 auf www.krautreporter.de veröffentlicht. Überzeugte Anhänger der „Lügenpressen“-Theorie wird das nicht beeindrucken, auch wenn sie selbst im Ulfkotte-Buch die Fehler nachprüfen könnten. Sie fühlen sich wohl auf dem Boulevard der Wahnwichtel Was sind schon Fakten, wenn sie nicht zu meiner Interpretation passen?

 

„Lügenpresse, Lügenpresse!“, rufen die Pegida-Anhänger. Dass der Begriff von Adolf Hitler und anderen Nazis verwendet wurde, um die eigenen Lügen als Wahrheit darzustellen, stört die patriotischen Europäer ebenso wenig wie die Tatsache, dass Neonazis an ihren Umzügen teilnehmen. Zu behaupten, sämtliche großen Tages- und Wochenzeitungen lügen vorsätzlich, weil sie nicht die jüdische oder die islamische oder die satanistische Weltverschwörung in meinem Sinne thematisieren, ist wichtiger Bestandteil einer sich gegen Kritik immunisierenden Verschwörungstheorie. Doch woher bezieht der Verschwörungstheoretiker von Welt seine Informationen, wenn nicht aus den großen Tages- und Wochenzeitungen?

 

Er liest „Compact“, die „Deutschen Wirtschaftsnachrichten“ oder „pi-news“. Und woher haben diese Anti-Mainstream-Formate ihre Informationen? Aus den „Mainstreammedien“. Die Fakten oder Kommentare werden hier lediglich in einen anderen Zusammenhang gestellt. Besonders heimtückisch funktioniert ein Blog wie pi-news, der alles aufführt, was sich Muslime in Deutschland oder andernorts zu Schulden kommen lassen. Bei etwa 1,5 Milliarden Muslimen weltweit ein Kinderspiel. Man denke sich einen solchen Blog einmal über Juden oder über Frauen, spätestens dann ahnt man, wie Hetze funktioniert, die sich selbst ganz unschuldig als reine Faktensammlung ausgibt.

 

Und wenn dann ein Anders Breivik in Norwegen 77 „Gutmenschen“ abschlachtet – ausgehend von genau jenen Verschwörungstheorien vom islamisierten und von Schwulen und Emanzen nicht verteidigten Abendland, wie sie pi-news und der Bonner Akif Pirincci mit manischer Verve nähren und verbreiten –, waschen diese Hetzer ihre Hände in Unschuld. Sie haben nur den ideologischen Hintergrund geliefert. Für die Umsetzung sind andere zuständig.

 

Verschwörungstheorien entziehen sich der rationalen Überprüfbarkeit und öffnen das Tor für jedweden Unsinn, auch gefährlichen. Und genau das bezwecken hasserfüllte Drahtzieher. Wer ihre Ansichten nachplappert, weil er mit gesellschaftlichen Entwicklungen unzufrieden ist, sollte sich genau überlegen, ob er damit die Situation nicht schlimmer macht.

 

Das ProNRW-Mitglied Melanie Dittmer hat PEGIDA-Demos auch für Bonn ins Leben gerufen. Auf einer DÜGIDA-Demo in Düsseldorf sagte sie am 8.12., dass die Spartaner die Muslime in der Reconquista in Griechenland zurückgedrängt hätten. Je nachdem, welche Phase der Reconquista Frau Dittmer meint, existierten die spartanischen Krieger schon etwa 1200, 1400 oder 1600 Jahre nicht mehr. Aber vielleicht haben das spartanerfeindliche Echsenmenschen vom Planeten David Icke bei Wikipedia absichtlich falsch eingetragen und niemand außer Frau Dittmer hat’s gemerkt? Wer weiß, wer weiß! Im youtube-Mitschnitt ihrer Rede sagt sie auch: „Ich hoffe, ihr kommt nächsten Montag nach Bonn. Bonn ist eine Studentenstadt und etwas schwieriger als Düsseldorf.“ Und die Düsseldorfer Patrioten jubeln ihr zu.

 

mehr lesen 31 Kommentare

Warum Jesuitenprovinzial Stefan Kiechle dem ehemaligen AKO-Rektor Pater Schneider nicht sein Vertrauen aussprechen sollte

 

Da ich im Blog "Unheilige Macht - der Jesuitenorden und die Missbrauchskrise" von einem Pater gefragt wurde, warum Betroffene, die sich im Eckigen Tisch Aloisiuskolleg organisiert haben, kein Verständnis dafür haben, dass Pater Schneider als Seelsorger in Göttingen eingesetzt wird und vom Jesuitenprovinzial Stefan Kiechle dessen volles Vertrauen ausgeprochen bekommt, habe ich hier für alle Interessierten ein kleines Dossier eingestellt, dass Heiko S. und ich zusammen erstellt haben. Für hilfreiche Ergänzungen und unter Umständen gebotene Richtigstellungen wäre ich dankbar.

 

Solange missbräuchliche Taten und unterlassenes Eingreifen im Orden bagatellisiert werden und für die Opfer keine Konsequenzen für Täter und Mitwisser ersichtlich sind, kann von ernsthafter Aufklärung keine Rede sein.

 

 

1. Pater Schneiders Funktionen und Verantwortlichkeiten am Aloisiuskolleg

1968 – 1973 Studienbegleitende pädagogische Hilfskraft am Aloisiuskolleg

1974 – 1977 Hauptamtlicher Erzieher und Religionslehrer am Aloisiuskolleg

1980 Promotion

1984 – 2006 Internatsleiter

2007 – 2010 Rektor

 

Pater Stüper war von 1985 bis 1992 Schuldirektor und bis 2006 Erzieher und Mitarbeiter am Internat des AKO. In den Jahren 1993 bis 2006 war Stüper formell ein Untergebener seines Vorgesetzten Pater Schneider, in Sachen Internatsleitung formell ab 1984.

 

Über die hierarchische Beziehung hinaus, unterhielten Pater Stüper und Pater Schneider eine enge persönliche Beziehung. Hierfür sollen zwei Zitate von Dritten angeführt werden: Jesuiten-Provinzial Gerhartz äußerte bereits 1974: „Seine (Stüpers) Schwächen werden zum Teil ausgeglichen durch die Anwesenheit des Erziehers Schneider, mit dem sich P. [„Georg“] gut versteht und viel bespricht, der einen Großteil des Internats faktisch leitet und überall angesehen ist.“ (S.189).

 

Theo Schneider war sehr bald von Pater Stüper als Seelenverwandter entdeckt und als Freund gewonnen worden. Als Trio bündelten wir seither unsere Kräfte, um effektiv zusammenzuwirken.Diese erfolgreiche Teamarbeit mit Freunden bleibt für mich das Schönste, das ich in meinem ganzen Berufsleben erfahren durfte. (Aus: Dr. Christian Eschweiter, (Anm. ehem. Lehrer und Leiter des „Ako-Pro-Seminar e.V.). in „In memoriam Pater Ludger Stüper SJ“, S. 4, bei http://www.christian-eschweiler.com)

 

2. Pater Stüper als Täter am AKO der Jahre 1968 bis 2007

Frau Zinsmeister liegen für ihren Abschlussbericht Angaben von 36 Personen vor, die Pater Stüper („Georg“) betreffen. Da sich im Zinsmeisterbericht keine Jahreszahlen der Taten, sondern nur grobe Angaben zum Schuleintritt wiederfinden, lassen sich die Berichte der

Betroffenen zeitlich nicht eindeutig zuordnen. Die Berichte umfassen einen Zeitraum von 1968 bis 2007/2008. Frau Zinsmeister formuliert: „Wir müssen davon ausgehen, dass es eine Vielzahl von (Alt) Schülerinnen und Schülern gibt, die sich nicht gemeldet haben, obwohl sie Grenzverletzungen erlitten haben.“

 

Laut dem Zinsmeisterbericht umfassen Aussagen zu Stüper:

 

FKK, Saunabesuche mit ausgewählten Schülern

Duschen (Einseifen von Unterstuflern am ganzen Körper)

Fotografieren (Nötigung zu Halbakt- und Aktaufnahmen)

rektales Fiebermessen (als Schulleiter bei nackten Unterstuflern, die dabei gestreichelt wurden)

entwürdigende Erziehungsmaßnahmen und gravierende Ehrverletzungen

Freiheitsbeschränkungen

Gesundheitsgefährdung

Persönlichkeitsrechtsverletzung

Gewalt gegen Sachen

körperliche Gewalt

psychische Gewalt

erhebliche (strafbare) sexuelle Handlungen

sexuellen Missbrauch

erzwungenen Oralverkehr

 

3. Pater Schneiders Haltung und Stellungnahmen gegenüber Pater Stüper im Abschlussbericht von Frau Raue (27. 5. 2010)

 

Auf S. 11 wird berichtet, dass Stüper in den Sammelduschen gelegentlich mit erigiertem Penis gesehen wurde und Schüler von oben bis unten einseifte, die sich nicht dagegen wehren konnten. Pater Schneider äußert dazu (S. 13) lediglich, dass es sich beim Duschen, um eine "sinnvolle pädagogische Maßnahme" handelt, "um alle Schüler zur Sauberkeit anzuhalten".

 

Auf S. 12 wird ein Fall erwähnt, bei dem Eltern 1995 den Verdacht auf Missbrauch äußern. Es findet eine Einigung mit der Schule statt, von einer Anzeige nehmen die Eltern Abstand.

 

Auf S. 14 wird Pater Schneider zitiert, der behauptet, "niemals von irgendjemandem wegen irgendwelcher Missstände angesprochen worden zu sein." [Offensichtlich eine Falschaussage, siehe vorhergehenden Punkt]

 

Auf S. 14 wird Pater Schneider zum Thema "Fotografieren" zitiert. Er äußert sich dahingehend, dass viele Fotos einen "künstlerischen Anspruch" gehabt hätten und das Fotografieren "nie heimlich geschehen" sein soll. [Woher weiß Pater Schneider, dass so etwas nie heimlich geschehen ist? Will er damit andeuten, dass Pater Stüper keine Geheimnisse vor ihm hatte?!]

 

Ebenfalls auf S. 14 äußert Schneider, er habe Stüper "einmal überrascht", als der auf der Terrasse seines (Stüpers? Schneiders? Raue schreibt für eine Juristin recht unklar) Büros einen Jungen nackt (Raue meint: einen nackten Jungen) fotografiert habe. Da habe er ihn zurecht gewiesen. Das Fotografieren habe "Anlass zu Missinterpreationen" gegeben.

 

Auf S. 14 äußerst sich Pater Schneider dahingehend, dass ihm Pater Stüper ein Vorbild gewesen sei.

 

Auf S. 14 wird berichtet, dass sich Pater Stüper in einem Gespräch mit Frau Raue als "pädophil" bezeichnet. Pater Schneider, der offenbar zugegen war - hier ist der Bericht wieder schwammig - äußert im März bzw. April 2010 (der Bericht nennt zwei Gesprächstermine) "Aus heutiger Sicht hätte er das damalige Gespräch zum Anlass nehmen müssen, um für die Vergangenheit Klarstellungen zu erreichen". [Aus heutiger Sicht!]

 

4. Pater Schneiders Haltung und Stellungnahmen gegenüber Pater Stüpers Fehlverhalten sowie seine Rolle allgemein im Abschlussbericht von Frau Prof. Zinsmeister (15.2.2011)

 

„Der Altschüler berichtet, auf einer gemeinsamen Autofahrt Anfang der 70er Jahre Pater „Hans“ auf das gemeinsame Duschen mit Pater „Georg“ angesprochen zu haben, der geantwortet habe, dieses sei normal, ob es ihn stören würde.“(S. 62)

 

„In dieser Zeit sei Pater Schneider „Hans“ als Erzieher auf der Stella* tätig gewesen. Ihm und seinen Mitschülern sei klar gewesen, dass er anschließend die Nachfolge von Pater „Georg“ antreten werde. Er ginge davon aus, dass Pater „Hans“ das Verhalten Pater „Georgs“ mitbekommen habe.“ (S.66)

 

Prof. Zinsmeister:„Pater Schneider war Pater „Georg“ jahrzehntelang eng verbunden. Er wurde uns von Altschülern, Mitgliedern und Ordensmännern als Pater „Georgs“ engster Vertrauter genannt. Damit drängte sich zu Beginn 2010 mit Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Pater „Georg“ vielen die Frage auf, ob Pater Schneider von diesen gewusst und Pater „Georg“ gegebenen-falls sogar gedeckt hat. Zu den Berichten, denen zufolge er selbst grenzverletzend gehandelt oder an Grenzverletzungen Pater „Georgs“ mitgewirkt haben soll,“(S. 177)… berichtet Prof. Zinsmeister unter anderem:

 

Berichterstatter 13.: „Der Schüler erinnert zwei Situationen, bei denen nur wenige Jungen beteiligt waren, die von Pater „Georg“ aufgefordert worden seien, sich auszuziehen. Bei einer dieser Situationen sei Pater „Hans“ anwesend gewesen. (…) Der Altschüler schildert, diese Aktionen nicht als unbehaglich empfunden zu haben. Er sei neidisch gewesen, als er zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr dazu gehört habe.“ (S. 69)

 

„Der Altschüler schildert, Pater „Hans“ und Pater „Georg“ seien nachts in die Zimmer

der Jungen gekommen, um heimliche Fotoaufnahmen zu machen.“ (S. 69)

 

Bewertung Prof. Zinsmeister:

„Soweit Pater „Georg“ und Pater „Hans“ nachts heimlich Fotoaufnahmen gefertigt haben, erfüllt dies keinen Straftatbestand. Eine Persönlichkeitsrechtsverletzung läge wegen der Heimlichkeit der Aufnahmen jedoch vor“. (S. 125)

 

Berichterstatter 15. „Beide (Anm. Stüper und sein Opfer) seien auf die Pferdekoppel gegangen und Pater „Georg“ habe ihn aufgefordert, sich in bestimmte Posen zu setzen bzw. zu stellen. Er habe fotografiert und den Schüler aufgefordert, die Hose auszuziehen und sich erneut zu positionieren.(…) Der Altschüler gibt an, dass Pater „Hans“ einige Male zum Fotografieren an der Pferdekoppel hinzugekommen sei. Pater „Georg“ habe Pater „Hans“ aufgefordert, das gute Aussehen des Schülers zu bestätigen, was Pater „Hans“ getan habe.“(S. 70)

 

Bewertung Prof. Zinsmeister: „Eine Grenzverletzung ist darin zu sehen, von strafbarem Verhalten kann nicht ausgegangen werden. Die berichtete Anwesenheit von Pater „Hans“ bei einigen der Situationen stellt keine eigene Grenzverletzung dar.“ (S. 126) [Dennoch wäre Schneider Zeuge einer Grenzverletzung gewesen, gegen die er nicht vorgegangen ist und der er das Kind aussetzte.]

 

Prof. Zinsmeister geht nicht in die Details eines FKK Urlaubs der Patres mit Kindern, sie stellt fest: „Die Verschiebung der fachlich angemessenen Grenzen zwischen professioneller Nähe und Distanz zeigt sich auch daran, dass scheinbar nicht mehr hinterfragt wurde, ob es angemessen war, dass Pater „Georg“ – später gemeinsam mit Pater „Hans“ – zum einen überhaupt mit einigen auserwählten Schülern in Urlaub gefahren ist und zum anderen diese Urlaube teilweise an FKK-Stränden verbracht der mit den mitreisenden Jungen nackt gebadet, gesonnt oder sauniert hat.“ (S. 118)

 

„Diese Auswahl (Anm: der Schüler für den FKK-Urlaub) habe Pater „Georg“ alleine getroffen und nicht mit ihm besprochen. Sein Part sei es gewesen, sich um die gesamte Organisation der Reise, die Route, die Ausrüstung etc. zu kümmern“ so Schneider auf Seite 179.

 

5. Die Rolle von Pater Schneider in der Bewertung von           Frau Prof. Zinsmeister

Prof. Zinsmeister formuliert, es werde „deutlich, dass unter der Ära Pater „Georgs“ am Aloisiuskolleg eine Verschiebung der Grenzen, wie sie oben unter „Täterstrategien“ erläutert wurde, stattgefunden hat, die an nachfolgende Schülergenerationen tradiert wurde. Schülern, die eine Grenzüberschreitung wahrnahmen und die versuchten, sich dagegen zu wehren (Anbehalten der Badehose zum Duschen, Bedecken der Genitalien …) wurde vermittelt, sie seien prüde und ihre Wahrnehmung damit falsch. Durch das Zurschaustellen von Fotografien wenig oder gar nicht bekleideter Jungen wurde die Grenzverschiebung dokumentiert und zementiert.“ (S. 118)

 

Schneider hat also die Täterstrategie „Verschiebung der Grenzen“ wenigstens toleriert, und mitgetragen, dagegen vorgegangen ist er nicht.

 

Prof. Zinsmeister bewertet Schneiders Verantwortung in Hinblick auf Stüpers Fotografieren: „Pater Schneider verfügte aufgrund seines Studiums über Kenntnisse in Psychologie und Pädagogik. Er hätte erkennen können, dass Jungen in diesem Alter weder in der Position sind, noch ein so ausgereiftes Selbstbewusstsein haben, einer gemeinhin als autoritär gefürchteten Respektsperson den Gehorsam zu verweigern oder auch nur eine Bitte abzuschlagen. Er sah das Fotografieren aus gutem Grund für grenzverletzend an. Mit wiederholter Diskussion (Anm. mit Stüper) wurde für ihn erkennbar, dass er Pater „Georg“ nicht mit Argumenten vom Fotografieren abzuhalten vermochte, sondern dafür lediglich den Vorwurf der „Prüderie“ und „Verklemmtheit“ erntete.“(S. 180)

 

[Pater Schneider hat also sehenden Auges die Kinder Grenzverletzungen ausgesetzt. Hatte er keinerlei Überlegungen über den Sinn und Zweck dieser Fotos angestellt? Dass der Grund des Fotografierens von Pater Schneider nicht als harmlos wahrgenommen wurde, zeigt neben seinen bisher dokumentierten Reaktion auch ein RBB-Fernsehinterview vom Februar 2010. Die Formulierung „ich habe ihn gewarnt, nicht so ein Risiko einzugehen“ klingt anders, als beispielsweise „ich habe ihm gesagt, dass er die Kinder nicht benutzen und entwürdigen darf“. Während bei einer Aussage wie der zweiten Interesse am Wohl der Kinder deutlich geworden wäre, klingt erstere nach Überlegungen zum Täterschutz.

 

RBB-Online: Interview mit Pater Schneider.


 

Für Zinsmeister ist die Verantwortung klar: „Zwischen 1989 – 1997, dem Zeitraum, in dem diese Gespräche (Anm. mit Stüper) stattgefunden haben sollen, war Pater Schneider Internatsleiter und damit in der Verantwortung, grenzverletzendes Verhalten eines Internatserziehers zu unterbinden. Er hätte sich als Internatsleiter folglich nicht mit Diskussionen begnügen dürfen, das Fotografien der Jungen endgültig unterbinden müssen.“ (S. 180)

 

Prof. Zinsmeister kommt zum Schluss: „In Bezug auf Pater Schneider ist abschließend festzustellen, dass er zwar positive Kenntnis davon hatte, dass Pater „Georg“ mehrmals das Eigentum von Schülern zum Fenster hinaus geworfen, Schüler geohrfeigt und ihnen rektal Fieber gemessen hatte. Er wusste des Weiteren, dass sich Pater „Georg“ nackt mit Schülern duschte, gibt aber an, dies als normal empfunden und selbst ab und an so gehandhabt [!] zu haben. Uns liegen keine Berichte vor, wonach Pater Schneider zugegen gewesen sein soll, wenn Pater „Georg“ Fieber maß oder Jungen einseifte. Er gibt an, von Handlungen wie dem Einseifen oder jedweden sexuellen Berührungen nichts gewusst zu haben. Insgesamt gewannen wir in den beiden Gesprächen, die wir mit Pater Schneider führten, den Eindruck, dass Pater Schneider nicht nur dem Aloisiuskolleg, sondern auch Pater „Georg“ und dessen Pädagogik aufs Engste verbunden ist.(!) Es scheint für ihn unvorstellbar, dass Pater „Georg“ sich Jungen jemals aus sexuellen Motiven heraus genähert oder deren Grenzen in einem ihm bislang unbekannten Maß verletzt haben könnte. Ihm war es wichtig, seine positiven Erfahrungen mit Pater „Georg“ zu schildern. Pater Schneider haben die vierzig Jahre an Pater „Georgs“ Seite zweifellos sehr stark geprägt.(!) Im Gegensatz zu vielen unserer Ansprechpartner im Orden und Kolleg stand er auch dessen Führungsstil nicht erkennbar kritisch (!) gegenüber. Ob die Einschätzung einiger Gesprächspartner, wonach Pater Schneider auch noch als Internatsleiter und Kollegsrektor in Teilen Pater „Georgs“ Adlatus geblieben sei, zutrifft, können wir nicht beurteilen. Unserer Einschätzung nach vermochte Pater Schneider aber im Laufe der Jahre allenfalls ein geringes Maß an kritischer Distanz (!)zu seinem Mitbruder zu entwickeln, der ihn auf seinen eigenen Lebensweg so lange begleitet und maßgeblich geprägt hat. Um als Internatsleiter und Kollegsrektor Pater „Georg“ in seine Grenzen zu verweisen, hätte Pater Schneider jedoch eine sehr weitreichende kritische Distanz und Entschiedenheit entwickeln müssen.“ (S. 188 f.)

 

[In ihrer Untersuchung vom Anfang 2011 sieht Zinsmeister also bei Schneider „allenfalls ein geringes Maß an kritischer Distanz“ zu einem Mann, der Kinder Jahrzehnte lang missbraucht hat, während er selbst für deren Schutz verantwortlich war. Mehr noch, sie stellt fest, dass die Person Schneider von einem Missbrauchstäter maßgeblich geprägt wurde.]

 

6. Widersprüche bei Umgang mit Aktfotografien/Halbakten

Frau Raue mahnte im Jahr 2007 an, die Knabenfotografien müssten vernichtet werden, um Persönlichkeitsrechte nicht zu gefährden. Pater Schneider sicherte ihr zu, zu überwachen, dass Pater Stüper dies tut. Im Jahr 2010 tauchten dann etliche Kartons mit solchen Fotos in Pater Schneiders Besitz auf. In Hinblick auf die Vernichtung von Beweisbildern, berichtet Prof. Zinsmeister von folgendem Widerspruch: „Pater Schneider hat Frau Raue später bestätigt, er sei bei der Vernichtung der Bilder dabei gewesen und diese Angabe 2010 in einer öffentlichen Erklärung für Schüler, Eltern, Lehrer und Kollegen nochmals wiederholt. Im Gespräch mit uns gibt Pater Schneider an, er habe die Vernichtung der Bilder nicht direkt verfolgt, sondern sich im Nachbarzimmer aufgehalten und dort den Schredder gehört. Er sei anschließend ins Zimmer gekommen und habe festgestellt, dass die Schatulle leer war. Da Frau Raue als Expertin in Sachen Missbrauch mit der Vernichtung der Bilder die Angelegenheit für erledigt betrachtet habe, habe er keinen Grund gesehen, aus dem Verhalten Pater „Georgs“ weitergehende Schlüsse auf mögliche Missbrauchshandlungen zu ziehen“ (S.187)

In diesem Zusammenhang spricht Pater Schneider öffentlichkeitswirksam von einer Mediation, die 2007 mit einem betroffenen Schüler stattgefunden haben soll, Bonner Generalanzeiger, 09.02.2010 (http://www.general-anzeiger-bonn.de/index.php?k=loka&itemid=10490&detailid=697174).

Frau Raue stellt richtig: „Es habe aber kein Mediationsverfahren stattgefunden, widerspricht sie. Die Kontrahenten hätten nie an einem Tisch gesessen.“ Bonner Generalanzeiger, 09.03.2010.http://www.general-anzeiger-bonn.de/index.php?k=loka&itemid=10490&detailid=710183

 

Laut Frau Zinsmeister tauchten 2010 im Rahmen der Untersuchung am AKO 739 Fotos von Schutzbefohlenen im Nachlass Pater Stüpers auf. Darunter 255 Bilder, auf denen Kinder in "auffälliger" Weise, d.h. halb oder vollständig entkleidet bzw. aus einer aus anderen Grüdnen als erotisch interpretierbaren Weise abgebildet sind.

 

7. Pater Schneiders Stellvertreter findet kein Gehör

Durch das Buch Sacro Pop von Miguel Abrantes wurde 2004 ein Skandal in Bad Godesberg losgetreten, Prof. Zinsmeister berichtet, hierüber habe der Kollegsrat beraten: „Der damalige stellvertretende Internatsleiter Dr. Haep (Anm: selbst Akoschüler, in der Zeit Stüper/Schneider) hingegen berichtet, er selbst und andere hätten in diesen Sitzungen darauf hingewiesen, dass sich verschiedene im Buch beschriebene Verhaltensweisen der Figur des „Pater Steinfels“ – z.B. das Fotografieren und rektale Fiebermessen – durchaus mit der Wirklichkeit deckten. (…) Er habe darum auf der Kollegsratssitzung auch bei den Verantwortlichen darauf gedrängt, bestimmte Verhaltensweisen Pater „Georgs“ zu unterbinden und die Fotos in der Stella Rheni abzuhängen. Er habe aber kein Gehör gefunden …“ (S. 183). [Die Verantwortlichen 2004 waren Internatsleiter Schneider und Rektor Werner.]

 

„Dass Pater „Georg“ auch nach 2006 noch aushilfsweise auf der Stella Rheni tätig war, wurde uns von Pater Schneider bestätigt. Auch Dr. Haep gibt an, Pater „Georg“ habe 2007 noch vereinzelt auf der Stella übernachtet, dies sei aber ohne Absprache mit ihm geschehen. Er habe Pater Schneider als dem zuständigen Oberen erklärt, dass dies nicht in Frage komme. Er selbst sei Pater „Georg“ gegenüber nicht weisungsbefugt gewesen.“ so berichtet Prof. Zinsmeister. (S. 185)

 

Zinsmeister“ liegen Berichte von Altschülern vor, wonach Pater „Georg“ auch 2007/2008 noch Duschaufsicht geführt und Schüler medizinisch versorgt haben soll. Allerdings hatten die Berichterstatter nicht genau datiert, in welches der beiden Jahre diese Ereignisse genau fielen.“ (S. 185)

„Und warum durfte ein in Verdacht geratener Pater bis 2007 im Internat und bis Anfang 2009 auf dem Ako-Gelände bleiben? "Da habe ich ganz auf Pater Schneider vertraut", sagt Raue nachdenklich.“ Bonner Generalanzeiger 09.03.2010 http://www.general-anzeiger-bonn.de/index.php?k=loka&itemid=10490&detailid=710183

 

8. Pater Schneiders Entschuldigungen

Aus einer öffentlichen Erklärung im Juni 2010: „Aus heutiger Sicht gebe ich klipp und klar zu, dass es geboten gewesen wäre, dem Verhalten von Pater („Georg“) näher nachzugehen und ggf. Handlungen rigoroser zu unterbinden, selbst wenn sie nur Gegenstand von bloßen Missverständnissen hätten sein können. Heute weiß ich, dass ich nachdrücklich auch bei ihm hätte unterbinden müssen, was mein eigener Kompass für mich als richtig anzeigte, was möglicherweise Jugendlichen schadete, auch wenn sie das zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu artikulieren wagten, wie starke unabhängige Erwachsene das für sich tun. Dass ich dies nicht getan habe, war ein gravierender Fehler. Heute – nach vielen Gesprächen mit Betroffenen - erkenne ich im Übrigen auch, wie unterschiedlich Situationen nicht nur aus der Perspektive von damals und heute, sondern wie verschieden schon damals ein und derselbe Vorgang, das gleiche Verhalten, die gleiche Situation (wie des gemeinsamen Duschens oder Schwitzens in der Sauna, das Fotografieren des in Umrissen als nackt erkennbaren Jungen im Gegenlicht durch Pater „Georg“) von Betroffenen und Dritten empfunden werden können: vom einem als völlig normal und nicht weiter bemerkenswert, vom anderen vielleicht als deutlicher Übergriff, der noch nach Jahren als verletzend empfunden werden mag. Dies hätte ich früher und sensibler wahrnehmen und im Zweifel den Empfindsameren Rechnung tragen müssen.“ (siehe Zinsmeisterbericht S. 188)

 

Im Göttiner Tageblatt vom 8.10.2011 findet sich zum wiederholten Male die Formulierung, er, Pater Schneider, habe eingeräumt, nicht rechtzeitig die Aufklärung von Vorwürfen eingeleitet zu haben und sich bei den Opfern entschuldigt. [Eine alberne Ausage, die wohl den Eindruck hervorrufen soll, Pater Schneider habe sich durchaus um Aufklärung bemüht, nur eben nicht ganz so prompt. Manchmal vergehen drei Jahrzehnte wie im Fluge.]

 

Im gleichen Artikel formuliert Pater Schneider er sei für Gespräche offen. und: "Es gibt auch einzelne Gespräche mit Opfern." [Es gibt... Sicher richtig und juristisch unangreifbar.]

 

Abschließend räsoniert Schneider in dem Interview: "Ich habe noch keine Antwort darauf gefunden, wieso sich die Kritik auf meine Person konzentriert."

 

9. Pater Schneiders Verhalten seit dem öffentlichem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle im Februar 2010

 

-        Pater Schneider hat sich nie öffentlich von Pater Stüper distanziert.

-        Trotz seiner Beteuerung in einem Pfarrbrief der Göttinger Gemeinde St. Michael ist dem „Eckigen Tisch“ kein Betroffener bekannt, mit dem Pater Schneider je versöhnlichen Kontakt gesucht hätte.

-        Allerdings liegen mehreren Betroffenen Rechtsanwaltschreiben im Auftrag von Pater Schneider vor. Darin wird mit hohen Geldstrafen gedroht, falls noch einmal öffentlich behauptet würde, Pater Schneider sei ein Mitwisser.

-        Bei einem Treffen des Eckigen Tischs in Oberdollendorf ließ sich Pater Schneider durch Frau Raue entschuldigen. Der zurückgetretene Rektor wolle lieber einigen Schülern Nachhilfe geben, um sie auf ihre Abiturprüfungen vorzubereiten.

 

Wenn pädagogische Versager wie Pater Schneider das volle Vertrauen des Ordens genießen und Menschen seelsorgerischen Rat geben dürfen, dann setzen die Jesuiten ihren pädagogischen und seelsorgerischen Anspruch weiterhin erstaunlich niedrig, ja: schwindelerrregend niedrig im Vergleich zum aufgeblasenen Image.

------------------------------

 

*Stella Rheni, neoklassizistisches Schloss in dem Pater Stüper als einziger Ordensmann / teilweise einziger Erwachsener wohnte. http://de.wikipedia.org/wiki/Aloisiuskolleg#Stella_Rheni

28 Kommentare

Sören will die Sauce nicht. Warum Veganer so tierisch nerven.

(erschienen in Christ & Welt am 30.10.2014)

 

Veganer nerven. Gerade hat man sich mit der Familie zu Tisch gesetzt und atmet den Duft eines Lammbratens ein, da sagt der neue Freund der jüngeren Schwester: "Ich esse kein Fleisch." Und weil er Dreadlocks und so einen selbstgerechten Zug um den Mund trägt, ist mir gleich klar: Der hat keine Allergie – nein, das ist ein von der eigenen Ethik berauschter Spießer, der uns das Abendessen verleiden will. Denkt dieser Tierschützer auch mal an uns Menschen?

 

Beim Versuch, diesem Sören wenigstens etwas Sauce über die Beilagen zu gießen, fragt er meine Mutter: "Ist da Sahne drin?"

 

Wie bitte? Höre ich Recht? Kein Zweifel: Der Freund meiner Schwester ist Veganer. Wäre er doch stattdessen schwul! Damit könnte ich umgehen. Am Tisch kommt Unruhe auf. Mutter fragt ihre Tochter: „Und du? Isst du etwa auch kein Fleisch mehr? Aber Sauce darfst du doch noch?“

 

In den folgenden Wochen suche ich Argumente, die man gegen Veganismus ins Feld führen kann, bevor dieser Irrsinn noch mehr Mitglieder unserer Familie befällt. So ganz ohne tierische Eiweiße muss es doch zu Mangelerscheinungen kommen. Am Ende stehen da klapperdürre Hänflinge, die sich nicht mehr konzentrieren können, weil ihnen die Synapsen schrumpfen. Gut, Gorillas ernähren sich auch rein pflanzlich, aber mit Tier-Mensch-Vergleichen sollte man vorsichtig sein. Dann stoße ich im Netz auf Patrik Baboumian, den angeblich stärksten Mann Deutschlands, der nebenbei auch noch Veganer ist. Obendrein lese ich eine Studie der American Dietetic Association – der weltweit größten Organisation von Ernährungsexperten. Ergebnis: Sogar Heranwachsende können mit etwas Knowhow und ein paar Nahrungsergänzungsmitteln problemlos vegan ernährt werden.

 

Also anders: Der Mensch ist nun einmal ein Allesfresser. Er hat schon immer Fleisch gegessen. Man muss sich nur seine Reißzähne ansehen. Und seine Klauen. Gut, wir müssten heutzutage kein Fleisch mehr essen, und würden dann oft sogar gesünder leben, aber soll man etwas aufgeben, nur weil man das kann? Menschen haben schon so viel aufgegeben, bloß weil sie es konnten: Altentötung, in Höhlen schlafen, Fäkalien auf die Straße schütten … Ich werde bei dieser Aufzählung ganz nostalgisch. Meine Schwester nicht.

 

Ich versuche, ein Brevier über dieses dekadente Phänomen der verwöhnten Mittelschicht im 21. Jahrhundert zu verfassen und entdecke Denkwürdiges: Hesiod beschreibt in Werke und Tage das goldene Zeitalter als eines, in dem noch kein Fleisch gegessen wurde. Etliche  Anhänger des Pythagoras sollen aus spirituellen Gründen Vegetarier gewesen sein, ebenso viele Platoniker und Neuplatoniker. Plutarch schrieb im ersten nachchristlichen Jahrhundert in seinen Moralia „über das Fleischessen“: „Aber nichts kann uns rühren  […]. Um eines Stückchen Fleisches willen rauben wir ihnen Sonne, Licht, Leben, für die sie doch geschaffen sind.“ Und Leonardo da Vinci wird folgender Satz zugeschrieben: "Ich habe schon in jüngsten Jahren dem Essen von Fleisch abgeschworen, und die Zeit wird kommen, da die Menschen wie ich die Tiermörder mit gleichen Augen betrachten werden wie jetzt die Menschenmörder."

 

Noch gebe ich nicht auf: In Wagners Essay „Religion und Kunst“ wird der Fleischkonsum als nichtarische Tradition verteufelt. Es ist „der ungerechte Judengott“, der Abels Fleischopfer anerkennt, Kains Feldfrüchte aber verschmäht. Derlei „Denken“ beeinflusste Hitler und andere Kraft-durch-Freude-Antisemiten. Und das werde ich meiner Schwester brühwarm einschenken: Hitler war Vegetarier. Wenn das mal kein Argument gegen fleischlose Ernährung ist! Allerdings stimmt es nicht: Hitler wird von Biographen wie Payne und Speer als Fleischesser beschrieben, der Leber und Würstl liebte und alle vegetarischen Organisationen verbieten ließ. Aus gesundheitlichen Gründen (z.B. Blähungen) lebte er phasenweise vegetarisch, und aus Imagegründen ließ er sich als vitaler Asket darstellen. Aber selbst wenn Hitler Veganer gewesen wäre – was sollte das für ein Gegenargument sein?

 

In seinem lesenswerten Artikel „Tier und wir“ schreibt Heiko Werning, dass der „…vegane Lebensstil halt auch so ein Luxusprivileg ist, denn der größere Teil der Weltbevölkerung hat erst gar nicht die Möglichkeit, ohne das Risiko gesundheitlicher Folgeschäden auf tierische Produkte in der Ernährung zu verzichten.“ Das klingt plausibel. Nur was soll daraus folgen? Sollen wir aus Solidarität mit den Ärmsten der Armen auf 1. Welt-Firlefanz wie Menschenrechte, Umwelt- und Tierschutz verzichten? Mit dem Vorschlag brauche ich meiner Schwester nicht zu kommen.

 

Ich lese ein paar wissenschaftliche Texte in Zeitschriften wie Ecological Economics oder American Journal of Clinical Nutrition. Und wie befürchtet – jetzt wird es kompliziert. Um es kurz und vereinfacht zusammen zu fassen: Auf absehbare Zeit wird sich die Menschheit nicht fleischfrei und schon gar nicht komplett vegan ernähren können, aber sie sollte sich zum Schutze von Ressourcen in diese Richtung entwickeln. Diese Analyse beeindruckt mich allerdings weniger als ein Ausflug mit meiner Schwester. Auf einem Biohof bekomme ich ein Ferkel in den Arm gelegt. Babysüß stupst es mit seinem Rüssel gegen meine Brust. Es ist ganz eindeutig: Das ist ein empfindungsfähiges Lebewesen und keine Ware zu meinem Genuss. Wie menschlich ich bin, zeigt sich wahrscheinlich auch an meinem Umgang mit Tieren.

 

Jetzt habe ich den Salat. Das leckere Fleisch! Das Stück Lebenskraft! Dieses männliche Gefühl beim Grillen einer selbst gekauften Wurst!  Weil ich weder auf Fleisch verzichten noch Tiere leiden lassen will, rede ich mir ein, nur noch Fleisch aus „artgerechter Haltung“ zu essen. Wild und Bio! Fleisch von glücklichen Tieren! Als ich mich ein paar Wochen später beim Essen eines BigMäcs ertappe, wird mir klar, dass ich bei jeder dritten Gelegenheit auch Fleisch ohne Gütesiegel konsumiere. Außerdem ahne ich, dass die meisten „Biotiere“ auch nur so lang und erträglich leben, wie es mit dem Ziel des Profits zu vereinbaren ist. Andererseits: In einer Veganer-Welt würden diese Zuchttiere gar nicht leben.

 

Nun gut. Es gibt ja noch leckere Käse-Omeletts. Allerdings dämmert mir bald, das für die Milchproduktion, Kälber der Mutter weggenommen und selbst zu Milchkühen oder zu Wiener Schnitzeln werden. Und die deutsche Legehennenzucht bedeutet für 45 Millionen männliche Küken jedes Jahr den Tod durch Schredder oder Gas oder Verfütterung im Zoo.

 

Es ist zum Verzweifeln: Wenn man der Moral einmal den kleinen Finger reicht, will sie bald die ganze Hand. Wo ist da mal Schluss? Und das ist der Hauptgrund, warum Veganer so unglaublich nerven: Bei denen ist nicht Schluss, wo beim gesunden Volksempfinden Schluss ist. Nur wie gesund ist das Volksempfinden? Wo es früher einmal in der Woche ein Stück Braten gab, müssen heute die putzigen Grünen nur einen fleischfreien Tag in der Kantinen-Woche vorschlagen und schon rasten viele aus, wie Alkoholiker, denen man den Fusel wegnimmt. Sind wir Junkies einer Fleischindustrie, die dem wachstumsideologischen Motto „Zuviel ist nicht genug“ folgt?

 

Bereits als ich ein Kind war, versuchte mich der Dorffleischer mit einer Scheibe Bärchenwurst pro Besuch anzufixen. Vor seiner Metzgerei stand ein Pappaufsteller: Ein grinsendes Schwein mit Serviette um den Hals und Messer und Gabel in den Klauen. Botschaft: Hier schmeckt’s auch den Schlachttieren. Ähnlich hirnverklebend funktioniert heute eine Zeitschrift wie „Meat“, die der Bauernverband herausgibt: „Gut, gesund, nachhaltig – Fleisch gehört dazu!“. Wie soll ich nach jahrzehntelanger Konditionierung da einfach aussteigen? Manche Veganer sagen, man müsse im Prinzip auf nichts verzichten, das sei ganz leicht, und die teure vegane Boulette im Plastikpack mindestens genau so lecker wie die früher von Muttern. Blödsinn! Rieche ich Grillgut, tanzen meine Synapsen wie bei einem Hund. Ich finde es schwer, auf Fleisch zu verzichten und äußerst schwer auch alle anderen Tierprodukte zu meiden. Vielleicht liegt es auch daran, dass mir das Leid von Tieren nicht so nahe geht, wie Menschen, die diese Schutzschicht aus Ignoranz nicht besitzen. Ich bin nicht stolz darauf. Ich schäme mich nicht dafür. Ich wundere mich, wie unterschiedlich die Sedativa verteilt sein können. 

 

Ich wundere mich auch über die Aggressivität mancher Veganer. Bei kaum einem Thema wird in Internetdiskussionen oder Leserbriefen ein derart brutales Vokabular benutzt: Schadenfreude über verunglückte Walfänger (die vielleicht auch Familie hatten). Fleischesser werden als „Mörder“ bezeichnet, die man selbst mal in die Gaskammer schicken sollte. Die ganze Menschheit ist ein Geschwür, das sich hoffentlich bald auslöscht. Was mag dahinter stecken? Frust, weil man sich mit der eigenen Sensibilität permanent nicht gesehen und ausgegrenzt fühlt? Biographisch bedingte Enttäuschung und Wut, die sich in der Liebe zu Tieren und im Hass auf die bösen Fleischesser Ventile sucht? Selbsthass, der nach draußen drängt?

 

Es stimmt mich nachdenklich, dass die weltweit bekannteste Tierrechtsorganisation PETA regelmäßig den Holocaustvergleich bemüht. Plakatkampagnen zeigen Legehennen neben KZ-Häftlingen und Haufen mit getöteten Schweinen neben Bergen vergaster Juden. Werning schreibt zu Recht, dass selbst wenn die Initiatoren damit den Wert des Huhns oder Schweins unterstreichen wollten, für die Mehrheit der Betrachter der Unwert des Juden dargestellt werde. Mich rütteln solche Kampagnen nicht wach, sie stoßen mich ab. Ich glaube nicht, dass sich Empathie herbeibrüllen lässt, sie lässt sich nur vorleben. Und es bessert mich nicht, mich als schlechter Mensch zu beschimpfen, weil es mir manchmal nicht wichtig ist, auf tierische Produkte zu verzichten: Vom Molkepulver in den Chips über die Fleischbrühe in der „vegetarischen“ Asia-Imbiss-Suppe bis zur gemütlichen Essenseinladung bei Freunden oder einem Käse-Fressanfall. Und es geht ja nicht nur um Ernährung: Was ist mit Tierversuchen für Kosmetika? Was ist mit Autofahren, Städtebau, Flugreisen, Plastiktüten?  

 

Manchmal liege ich im Bett und mir wird bewusst, dass in genau diesem Moment Menschen verhungern oder vergewaltigt oder gefoltert werden. Ich weiß, dass gerade ein rumänischer Arbeiter mit Werkvertrag zum Dumpinglohn Dutzenden Ferkeln den Schädel zertrümmert. Ich kann meistens trotzdem gut einschlafen, weil ich dieses Wissen ausblende. Blende ich es nicht aus, fühle ich mich sofort überfordert. Ich werde nie so leben, dass es nicht auch anderen schadet. Ich werde immer hinter meinen Möglichkeiten, Gutes zu tun, zurückbleiben. Jährlich verhungern zehn Millionen Menschen. „Wir lassen sie verhungern“ nennt Jean Ziegler sein letztes Buch. Schon kleine Spenden würden Leben retten. Aber wer spendet 1% seines Einkommens? Oder 5%? Oder 10%? Und wieviel wäre genug? Wieso rasten bei diesem Thema Menschen nicht so aus, wie bei dem Thema Massentierhaltung? Und sind Almosen eine nachhaltige Lösung oder halten sie bloß eine ungerechte Struktur aufrecht? Hilft man den Näherinnen in Bangladesch, wenn man ihre Erzeugnisse nicht mehr kauft? Und sind das Fragen, mit denen der Konsument ganz allein dastehen muss?  Sind das nicht überindividuelle politische Fragen?

 

Jesus sagt, um ihm nachzufolgen, müsste man alles verkaufen, was man hat, und den Erlös den Armen geben. Aber danach wäre man ja selbst arm und könnte sich den Erlös selbst geben, wenn man ihn noch hätte.

 

Wie erschlagen liege ich auf dem Bett. Und denke plötzlich: Du kannst nichts dafür. Du bist in diese Strukturen von Natur und Kultur hineingeboren. Du bist auch nur ein Geschöpf.  Wir Menschen können nicht  alleine die Schuld daran tragen, dass die Welt so ist, wie sie ist, und dass wir so sind, wie wir sind. Und während das für Manche eine moralische Bankrott-Erklärung und ein verträumt-religiöser Gedanke ist, ist das für mich eine gute Grundlage, um mir und anderen zu verzeihen und mit frischem Mut jeden Tag neu zu versuchen, nicht perfekt zu leben, sondern ein bisschen besser.

 

 

28 Kommentare

"Das Buch der Wunder" von Stefan Beuse (Rezension)

„Alles umgibt dich, immer, nur auf einer anderen Ebene. Sieh es dir an, ich schreib alles in dieses Heft. Alles, was du wissen musst. Aber sei vorsichtig. Vertrau keinem außer dir selbst, und achte auf das, was dir begegnet. Wünsch mir Glück. Ich küsse und umarme dich hundertmal. Gezeichnet: Penny, Königin des Dschungels, nach Diktat verreist, lalala.“

 

 

 

Ist ein Leben ohne Wunder ein lebenswertes Leben? Wenn die Welt und die Lebewesen darin nichts als Uhrwerke sind, deren Ticken vollständig festgelegt und wissenschaftlich erschöpfend vermessbar ist – was bleibt uns dann zu glauben, zu hoffen und zu lieben? Dieser Frage scheint Beuses Buch anfangs nachzugehen.

 

Die Figurenkonstellation ist ein wenig exemplarisch: Tom ist ein an Forschung und Wissenschaft interessierter Junge. Er erklärt seiner phantasievollen Schwester Penny, dass die grüne Flaschenglasscherbe eben kein Smaragd und die Maus im Garten wirklich tot ist – da hilft auch kein aus Scherben um den Nager herum errichtetes „Haus aus Licht“. Der Vater der beiden repariert Uhren. Von ihm hat Tom seine Leidenschaft für die nüchterne, unbestechliche Wissenschaft und das Buch „Welt der Wissenschaft“.  Es gehört zu einem Schuber mit zwei Bänden, aber die „Welt der Wunder“ hat der Vater nie angerührt. Die Mutter hingegen neigt einem verflachten Christentum zu, mehr halbherzige Traditionspflege und formelhafter Trost, als Glaube (also die Fähigkeit entschlossen und mit dem ganzen Wesen an einer großen Geschichte mitzuspinnen). Der Vater verschließt sich mehr und mehr und begeht schließlich Selbstmord. Die Mutter heiratet drei Jahre später einen Langweiler und zieht mit den Kindern in eine besonders ordentliche Reihenhaussiedlung. Die nüchterne Wissenschaft führt zu Depression und Tod, ein nur behaupteter Glaube in die Sterilität.

 

Anders die Kinder: Penny ist humorvoll, kreativ und durch einen naiven Glauben an die Macht der Phantasie wunderbar geborgen. Tom ist neugierig und aufrichtig und will durch wissenschaftliche Forschung hinter den Schleier der Illusionen sehen, dahin gehen, wo noch keiner gewesen ist, wie Neil Armstrong, der als erster Mensch den Mond betrat.

 

Das erste Drittel hat mir besonders gut gefallen: In einer klaren, unaufdringlich poetischen Sprache nähert Beuse sich mit großer Einfühlungsgabe dem Wissendrang und der Fabulierlust zweier Kinder auf dem Weg in die Jugend. Offenheit, Staunen und Entdeckerlust zeichnen beide aus. Während Tom jedoch lieber die Welt als möglichst objektives Phänomen erkunden und ent-decken will, erschafft Penny ihre hemmungslos subjektiven Welten. Hingebungsvoll und hinreißend beschreibt Beuse eine diese Gegensätze spielerisch überwindende und verbindende Liebe zwischen Bruder und Schwester. Objektives und subjektives Universum, Wissenschaft und Mystik versöhnen sich im Begriff der Frequenzen: Jedes Lebewesen sendet und empfängt in einem bestimmten Frequenzbereich. Wer seine Frequenz verändert, verändert seine Wahrnehmung der Welt und so verändert sich die Welt für ihn. Das Ganze ist das Wahre: die Summe aller Frequenzbereiche.

 

Die Ereignisse sind aus Toms Perspektive erzählt, Penny aber ist für mich der magische Charakter. Als sie nach etwa 60 Seiten weitgehend aus der Geschichte verschwindet, verliert diese an Kraft. Auf verschlungenen Pfaden sucht Tom nach ihr. Zunächst in (krankheitsbedingten) Visionen, schließlich (viele Jahre später) im Aufeinandertreffen mit einem jungen Mädchen. Dazu flicht Beuse noch einen anfangs sehr spannenden Krimiplot ein, der sich ebenfalls über viele Jahre erstreckt, die in kurzen Sprüngen abgehandelt werden. Zwei Kriminalbeamte ermitteln das vorübergehende Verschwinden Toms. Jahre später (der Vermisste ist längst wieder aufgetaucht) ist eine der beiden Beamtinnen noch immer an Tom und seiner Schwester interessiert. Diese Entwicklung ist weder allzu glaubwürdig noch für den Roman zwingend nötig und offenbart eine Schwäche des Buches: Zu viele Motive hängen zu lose miteinander zusammen: das Dschungelbuch und die Wölfin Rakscha, ein verwunschener Waldsee (eine instabile Zone wie in „Stalker“), ein in die Grube fallender Pastor, ein hundezerfetzender Dämon, eine Autoimmunerkrankung namens Lupus erythematodes, eine Plastikfigur von Neil Armstrong, der Song „row, row, row your boat“, das Buch der Wunder (ein von Penny geschriebenes Heft), die „Welt der Wunder“ (der oben erwähnte Ergänzungsband zu „Welt der Wissenschaft“), eine Reinkarnation Pennys in einem zweiten „Haus aus Licht“. Durch diese hohe Zahl auf kleinem Raum werden die einzelnen Motive abgeschwächt und der Zusammenhang zwischen Alltagswelt und dem Wunderbaren wirkt hin und wieder ein wenig beliebig. Es scheint so, als habe Beuse die 220 Seiten des Romans aus einem viel längeren Text destilliert, in dem die einzelnen Bestandteile mehr Raum hatten, sich zu entfalten und zu verzahnen.

 

Dennoch ist die Lektüre auch über das erste Drittel hinaus lohnend: Die Fabulierlust, die durch den Kontrast mit einer konzentrierten Sprache nicht gezähmt sondern verdichtet wird, verleiht auch späteren Episoden dieser faszinierend eigenwilligen Erzählung Kraft. Die genauen und humorvollen Skizzen von einem Filmset oder aus einer Werbeagentur, in der Tom als Erwachsener arbeitet, zeigen Beuses Talent mit wenigen Worten viel auszudrücken und seine Leser zu unterhalten, ohne ihren Intellekt gering zu schätzen. Im stimmigen, gut vorbereiteten Finale finden zentrale Motive des Buches zusammen und erzeugen noch einmal jenes Staunen, das Antrieb und Wirkung dieses Romans ist.

 

Ist ein Leben ohne Wunder lebenswert? Diese Frage beantwortet Beuse ziemlich früh, indem er den Vater in den Selbstmord schickt und das Wunderbare als Wirklichkeit (also Wirkung) in eine realistisch (wenn auch sozial weitgehend konturlos) gezeichnete Welt einführt. Dämonen wüten in Wäldern und erinnern uns daran, nicht vor uns und unseren Ängsten wegzulaufen. Und Häuser aus Licht, und seien sie nur Teil einer Illusionsmaschine der Werbewelt, spiegeln das kindliche Vertrauen in die Alleinheit wieder: Wir gehen nicht verloren, wir ändern nur unseren Frequenzbereich.

 

 

Stefan Beuse: Das Buch der Wunder. Mairisch Verlag 2017, gebundene Ausgabe, 224 Seiten, 18 Euro

 

30 Kommentare

Die letzte Nacht von Schnellroda

Theaterstück in drei Akten

 

(wenn nicht durch * gekennzeichnet, handelt es sich ab „dramatis personæ" um Originalzitate aus dem Gesprächsband „Tristesse droite. Die Abende von Schnellroda“ (hrsg. von Ellen Kositza und Götz Kubitschek)

 

 

Dramatis personæ

 

Götz Kubitschek: Jahrgang 1970, Löwe, im Kern ein Menschenfreund, aber das weiß keiner.

 

Ellen Kositza: Wurde 1973 im Sternzeichen des Schützen geboren. Kositza ist vor allem Hausfrau. Kositza heißt Ziege.

 

Martin Lichtmesz: Wurde 1976 in Wien geboren. Die Sonne stand in den Fischen. Wie Ernst Jünger und Alain de Benoist zählt er sich zur Bruderschaft der Katzenliebhaber.

 

Thorsten Hinz: Jahrgang 1962. Im Sternbild des Skorpion geboren ist er zumeist freundlich.

 

Dr. Erik Lehnert: Ist Jahrgang 1975. Ihn empört das Ansinnen, sich selber zu beschreiben. Doch immerhin lässt sich dieses feurige Temperament mit seinem Sternzeichen entschuldigen; nämlich dem des Löwen!

 

Raskolnikow: 1975, Nordostbrandenburg. Vaterloser Bastard, cholerischer Tunichtgut, verfressener Faulpelz. Wie alle simplen Geister liebt er die Ordnung.

 

Nils Wegner: Erblickte an einem Herbstabend des Jahres 1987 im niedersächsischen Achim das Licht der Welt. Er schätzt Rotwein und Tabak und alberne Witzbildchen im Internet.

 

Außerdem: Akif Pirinçci, Udo Ulfkotte und der Chor der Antifanten

 

 

 

Erster Akt

 

In einer klirrend kalten Raunacht auf dem Rittergut Schnellroda (Haupstraße 24, 06268 Albersroda) streiten sieben Rechtsextreme darüber, was sie sind.* In der Bibliothek ist es ziemlich kühl, aber es gibt eine scharfgewürzte Kürbissuppe, frischgebackenes Brot, Wurstplatte vom Dorfmetzger, Bier und schweren Rotwein.

 

Lichtmesz: „Rechtsintellektueller“, das hört sich dämlich an.

 

Lehnert: Was hast’n gegen intellektuell?

 

Lichtmesz: Es ist einfach minderwertig, ein Intellektueller zu sein.

 

Wegner: Ich hätte jetzt statt „Intellektueller“ eher so den klassischen germanistischen poeta vates vorgeschlagen … wenn man das ganz klassisch, germanistisch-faschistoid sieht…

 

Raskolnikow (das Gesicht durch den Widerschein des Kaminfeuers markant illuminiert): Also Leute, die darüber diskutieren, ob sie Intellektuelle sind, sind bestimmt Intellektuelle.

 

Kubitschek (schwäbelnd): Genau.

 

Lehnert: Ich meine, wir würden den Leuten ja auch sagen, was sie tun sollen.

 

Raskolnikow: Aber wir gehen nicht von der Anthropologie aus, die die Liberalen haben!

 

Lehnert: Nee, wir gehen davon aus, dass der Mensch sowieso gesagt bekommen muss, was er tun soll.

 

Kubitschek: Genau.

 

Lichtmesz: Also, wenn ihr wollt, das ich etwas sage, dann müsst ihr mir das Wort erteilen.

 

Kubitschek: Nö.

 

(längere Pause, Lichtmesz schnorrt, dann raucht er, Kositza raucht auch.)

 

Kubitschek (nach Räuspern, zögerlich): Ich finde den Begriff der Traditionskompanie gut. Man bewahrt bestimmte Traditionselemente und bildet einen Verband, ganz gezielt, im Stile einer Kompanie.

 

Kositza: Ich find‘ den Begriff, mal vom Nichtzutreffen abgesehen, auch überhaupt nicht schön.

 

Kubitschek: Ich find‘ den sehr schön.

 

Lehnert: Kompanie ist französisch.

 

Kositza (äffender Ton): Traditionskompanie … da denk‘ ich an Älplervereine, Hut mit Gamsbart, Loden, festgelegte Fröhlichkeit.  

 

Lichtmesz: Also, wenn ihr wollt, das ich etwas sage, dann müsst ihr mir das Wort erteilen.

 

Kubitschek: Sag was.

 

Lichtmesz: Okay, okay, dann sag ich jetzt auch was. Aber ihr müsst mir Zeit lassen, ihr bringt mich durcheinander, wenn ihr jetzt reinredet oder blöde Witze macht.

 

Kubitschek: Sag was.

 

Lichtmesz: Mir geht’s im Grunde genauso wie der Ellen.

 

Kubitschek: Das liegt halt daran, dass du maximal mit der Sanitätstasche durchs Bundesheer gekrochen bist. Für mich ist ne Kompanie was Angetretenes.

 

Kositza (herablassend, amüsiert*): Das sagst du als Ein-Mann-Kaserne? Wo ist denn hier eine Kompanie?

 

Kubitschek (erregt*): Jetzt sag ich dir eins, jetzt unterbreche ich dich. Das Wort Traditionskompanie verweist auf meinen pädagogischen Anteil.

 

Lichtmesz: Jetzt mal rein gesprächstechnisch. Mir fällt zu allem was ein, was ihr sagt.

 

Wegner (zaghaft*): Wenn ich darf, würde ich gern auf das Argument der (malt Anführungszeichen) Kreativität eingehen…

 

Kubitschek: Nö.

 

Lichtmesz (entrückt*): Traditionskompanie … Das Wort ist blau, das ist pelzig, das ist wie ein Stein.

 

Kubitschek: Leise, da entsteht ein Sonett…

 

Lehnert (bereits lallend*): Eine Sache noch: Du hast angesetzt mit Preußen und Dienst, und dem zweiten Typ, denen, die was setzen. Das würde mich interessieren, was schwebt dir vor?

 

Kubitschek: Das ist ein großes Fass, das können wir nachher gerne aufmachen. Es ist ambivalent. Auf der einen Seite glaube ich, dass wir sehr dienstfähig sind. Auf der anderen Seite glaub ich … dass wir alle Setzer sein müssen.

 

Lehnert: Aber das ist ja der Punkt. Vielleicht würden wir selbst in der Welt, die unseren Vorstellungen am ehesten entspräche, trotzdem nicht klar kommen.

 

Kubitschek (defensiv*): Ich glaub schon, dass es Phasen …

 

Lehnert (jäh angriffslustig): Dann würde mich mal die Phase interessieren, in der du dich eingefügt hättest.

 

Kubitschek: Also. Lasst uns mal…

 

Lehnert (stärker lallend, aggressiv*): Woran mach ich’s fest, wann der Zeitpunkt ist, die radikale Entscheidung zu treffen: Jetzt kommt’s drauf an.

 

Kubitschek: Also…

 

Lehnert (sehr laut und unklar artikulierend*): So nach dem Motto: Waffe hab‘ ich im Schrank, und wenn’s knallt, dann geh ich. Sozusagen den Moment abzupassen, wenn’s grad ‚ noch nicht knallt, aber sozusagen den ersten Schuss, naja…

 

Kubitschek: Laßt uns morgen über diesen Punkt reden.

 

Lichtmesz (schief im Stuhl sitzend, ebenfalls lallend*): Jetzt muss ich eine Geschichte erzählen … Es gab Forscher, die ein Affenrudel beobachtet haben. Menschenaffen, Schimpansen oder so. Und im Rudel gab’s so ein paar Schimpansen, die quasi die „Depressiven“ waren. Die waren wenig aktiv, standen am Rand, haben nicht so laut geplärrt und geschrien und kopuliert und so weiter, die waren im Vergleich zu den pausbäckigen Schimpansen also die Dysfunktionalen. Die Forscher haben dann genau diese, die aus der Reihe gefallen sind, aus der Herde isoliert, damit nur die Pausbäckigen übriggeblieben. Und ein Jahr später war die ganze Herde, tot, ausgelöscht, vernichtet, von ihren natürlichen Feinden.

 

Kositza: Also sind wir systemstabilisierend?

 

Eine Gesprächspause. Ein Scheit knackt im Ofen. Lichtmesz sackt erschöpft nach vorne.

 

Kubitschek: Wer stabilisiert den Martin, bis er sein Bett bezogen hat?

 

 

 

Zweiter Akt (in memoriam Dr. Udo Ulfkotte)

 

Der folgende Abend. Draußen. Es ist längst dunkel. Ein schneebedecktes Feld im Mondlicht. Im Hintergrund kahle Bäume. Von links kommen nach und nach gegen den eisigen Wind gebeugte Gestalten in Winterkleidung auf die Bühne. Ihnen voran: Akif Pirinçci. Weiterhin vorne zu erkennen: Udo Ulfkotte und … Charlotte Roche. Ein paar der Gestalten ziehen Bollerwagen auf denen Waffen liegen: Äxte, Schwerter, Knüppel, auch Luftgewehre.*

 

Pirinçci: Verschissene Fickfotzen, verdammte.*

 

Ulfkotte: Herr Pirinçci, ich bitte Sie!*                                                     

 

Pirinçci: Kack-Sachsen-Acker hier. Was müssen diese rechtsversifften Ziegenficker auch in so einem inzest-degenerierten Ossi-Hartzer-Nest hausen? (Wendet sich nach hinten): Kommt jetzt, ihr asozialen Antifanten! Bambule machen, oder wie ihr Kiffkinder das nennt. .. (Die Antifanten johlen)*              

 

Ulfkotte: Bitte, beruhigen Sie sich doch. Hier! (Reicht Pirinçci einen Flachmann. Geistesabwesend greift dieser danach, trinkt, spricht dann weiter…)*

 

Pirinçci: Mein lieber Dr. Ulfkotte, dich hamse doch auch verarscht.*

 

Ulfkotte (weinerlich, aus Uhu-Augen hinter Brillengläsern): Einfach das Manuskript zurückgeschickt und alle Rechtschreib- und Logikfehler mit Rotstift markiert. Von Ihnen wurden ja wenigstens zwei Bücher gedruckt, Herr…*

 

Pirinçci (unwirsch): Jetzt hör mal auf mit diesem Scheiß „Herr Pirinçci“ hier, Herr Pirinçci“ da.*

 

Ulfkotte (servil): Sehr wohl.*

 

Pirinçci: Diese magersüchtige Kositza-Fotze hat mich als Pädo beschimpft, was ja lustig gewesen wäre, wenn mich ihr blödes Götzmännchen nicht aus dem Haus geworfen hätte. Von wegen Finger weg von meiner Tochter usw. Ja, Scheiße, ich dachte, die wäre schon 18. Musser es halt dranschreiben an die Muschi: Finger weg. Bin erst 16 und Privateigentum der Kubitschek-Kositza-GbR.*

 

Ulfkotte (weinerlich): Bitte, nicht immer die gleiche Geschichte. Und dann noch in diesem Gossenjargon.*

 

Ein Antifant: He Jungs, da sind Häuser. (Zeigt aus dem Bühnenbild). Und da, das muss das Rittergut sein.*

 

Pirinçci (hört gar nicht hin): Dabei habe ich da nur mal kurz hin gefasst, um zu sehen, ob das Echtpelz ist, von wegen Tierschutz und so. (Knufft Ulfkotte in die Seite): Verstehste? Kunstpelz ist echt. Nee?*

 

Der Chor der Antifanten (grölend): Wir wollen jetzt Bambule machen. Schlagt die Nazis bis sie lachen!*

 

Ulfkotte (ängstlich): Nicht so laut. Die könnten uns hören, und es sind mindestens sieben. Plus nochmal sieben Kinder und Hofgesinde!*

 

Pirinçci: Scheiß dich nicht ein, Udo. Schnapp dir einen Basi und dann ran an die Scheiben des altehrwürdigen Gemäuers.*

 

 

 

Dritter Akt

 

Kerzen brennen, Kaffee und Gebäck stehen auf dem Tisch, es gibt Grog und Konfekt. Man wartet. Nach einigen Minuten schlendert Lichtmesz herein und nimmt Platz.

 

Kubitschek: Martin, bist du fit?

 

Lichtmesz: Voll. Bin vorhin durch den Wald gejoggt, hab ein Wildschwein gerissen, mit bloßen Händen.

 

Raskolnikow (niedergeschlagen und mehr zu sich selbst): Also ich hab‘ keine Hoffnung, dass es in Deutschland oder Europa wieder so wird wie im Mittelalter.

 

Kositza (an Raskolnikow gewandt): Also: Was bedeutet Ihnen das Volk? Ist es Ihnen Wurst?

 

Raskolnikow: Ja.

 

Kubitschek: Ich guck mir Leute an, die sind so entsetzlich zugerichtet. Ob sichtbar mit Ringen und Gehängen und durchschossenen Ohren oder keine Ahnung was, bis hin zur letzten Gülle, die aus dem Maul tropft… Die Fremdheit den eigenen Leuten gegenüber ist sehr hart…

 

Kositza: Der Abstieg ist doch mit Händen zu greifen.

 

Lichtmesz: Es gibt keine irdische Hoffnung mehr.

 

Lehnert: Irdische oder jüdische?

 

Lichtmesz: Irdische.

 

Kubitschek: Hab jüdisch verstanden.

 

Lehnert: Ich auch, haha!

 

Lichtmesz: Die Identitären in Deutschland haben freilich auch nichts gerissen….Aber diese AfD-Rhinozerosse haben erst recht nichts bewirkt, außer dass sich das konservative Lager wieder mal selbst zerlegt und weichgespült hat.

 

Kubitschek (fährt kaum hinhörend dazwischen*): Das ist eine Kette von Zurücksetzungen … Als dann die Sezession zehn Jahre alt wurde, da hätte man locker mal eine ganze Seite in der FAZ vollpinseln können, hat aber keiner gemacht. Oder über den Verlag mal eine ganze Seite, oder wenigstens ein paar Rezensionen, wo doch ständig Besprechungsexemplare angefordert werden. Und wenn ich jetzt Weißbooks oder Cookbooks oder so heißen und schwule Lyrik aus Brasilien verlegen würde, dann hätte ich auch längst eine ganze Seite.

 

Kositza: Ich glaub, der Götz wäre auch froh, wenn es im Börsenblatt des Buchhandels auch über ihn ein dreiseitiges Portrait gibt wie von allen kleinen, feinen, unabhängigen Verlagen.

 

Kubitschek: Es ist leicht, etwas zu zerschlagen, aber schwer, etwas aufzubauen. Aber das, was uns im Moment umgibt – da muss ich sagen, etwas mehr Armut, etwas mehr Lust zur Veränderung und etwas mehr Zorn wären mir lieber als diese warme Badewanne, in der unser Volk ertrinkt.*

 

In diesem Moment ertönt ein lauter Knall. Die Sieben fahren zusammen. Angespannte Stille. Dann: Noch ein Knall, splitterndes Glas.*

 

Lichtmesz (schaut aus dem Fenster*): Der Ulfkotte, der kann’s kaum erwarten, ich finde das ziemlich ulkig, der sitzt schon im Startloch mit Survival-Pack.

 

Lehnert: Hehehehe. Gut!

 

Die Geräusche aus dem Erdgeschoss werden lauter und zahlreicher. Jetzt hört man neben berstenden Fenstern und splitterndem Mobiliar auch den…*

 

Chor der Antifanten:  Wir werden jetzt Bambule machen. Schlagt die Nazis bis sie lachen.*

 

Kubitschek (ängstlich*): Jetzt waren wir doch gerade auf der Ebene des Schabernacks.

 

Wegner (springt auf, greift sich ein Zierschwert von der Wand*): Standhalten.

 

Lichtmesz: Logo, logo, logo.

 

Raskolnikow (zeigt betrunken gestikulierend auf den hereinstürmenden Pirinçci*): Das ist Charlotte Roche!

 

Lichtmesz: …da entsichere ich meine Browning.

 

Kubitschek: Nein, nein, nicht durchdrehen, trotz allem nicht.

 

Pirinçci schnappt sich als erstes Hinz und schallert ihm eine, dass es kracht.*

 

Hinz: Erbaulich!

 

Pirinçci: Halt das Fressbrett, Brillenkasper.*

 

Hinz (vorwitzig*): Achtung, das war Ironie!

 

Hinz bekommt noch eine gepfeffert und geht zu Boden. Hinter Pirinçci stürmen bewaffnete Antifanten in den Rittersaal. Ein Schuss fällt. Wegner sackt von Lichtmesz getroffen zusammen.*

 

Wegner (perplex*): Also bitte!

 

Kositza (beugt sich zu dem Getroffenen. Blut läuft aus seinem Mund. Sie diagnostiziert kühl*): Erstverschlimmerung.

 

Lichtmesz (kleinlaut*): Aber das fire war mehr friendly.

 

Es kommt zu einem brutalen Handgemenge, in dessen Verlauf Kubitschek, Kositza und Lehnert aus dem Fenster geworfen werden. Mit verdrehten Gliedmaßen liegen sie im Schnee. Lange ist es still. Dann irgendwann bewegt sich…

 

Kubitschek: Das ist eine ungeheure Höhe von der wir runtergefallen sind.

 

Lehnert (röchelnd*): Man darf den Weltgeist nicht unterschätzen.

 

Kubitschek: Na, vor solcher Größe siedeln wir uns mal am besten irgendwo in der Bezirksliga an, aber mit Aufstiegspotential. Gut?

 

Lehnert: Gut.

 

0 Kommentare

2016. Ein Mut machender Jahresrückblick.

 

 

Obwohl es nun wirklich alt genug ist, möchte ich 2016 in Schutz nehmen. Mir persönlich bedeutet das Jahr viel mehr als Terror, Trump und Trottel. Deshalb habe ich ein paar gute Nachrichten aus dem Jahr 2016 zusammengestellt. Und dabei sind meine persönlichen Köstlichkeiten noch nicht einmal aufgeführt.

 

Ich beginne mit dem Dezember 2015. In diesem Monat veröffentlichte Amnesty International Deutschland in seinem Magazin dieses Interview mit Steven Pinker. Darin legt der Evolutionsbiologe dar, dass die Menschen immer friedlicher werden und immer weniger Menschen durch Krieg und Gewaltverbrechen sterben. Und Pinker kann auf etliche Studien, Erhebungen und Untersuchungen verweisen.  Zwei Beispiele: 1. Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) zählte 1993, zu Beginn ihrer Erfassungen, 63 Kriege und bewaffnete Auseinandersetzungen auf der Welt. 2013 und 2014 kamen die Hamburger Forscher auf jeweils 31 – der niedrigste bisher ermittelte Wert. 2. Das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, sinkt. Zwischen 2003 und 2013 sind, relativ zur Größe der Weltbevölkerung, Morde seltener geworden, Vergewaltigungen ebenfalls und Raubüberfälle auch. Einbrüche – in Deutschland derzeit ein großer Grund zur Sorge – sind im globalen Maßstab besonders stark zurückgegangen, dasselbe gilt für Autodiebstähle.

 

Außerdem: Die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, ist sehr stark gesunken: Lebten 1990 noch 1,9 Milliarden Menschen von weniger als 1,25 Dollar am Tag – die Definition der Weltbank für extreme Armut –, dürften es in diesem Jahr unter 800 Millionen sein. Da die Weltbevölkerung gewachsen ist, ist der Anteil der Armen noch stärker gefallen: von 47 Prozent (1990) auf 14 Prozent (2015).

 

Und heiter weiter: Ab Anfang des Jahres gilt die Selbstverpflichtung der Firma Intel. Die Computerfirma verzichtet nach mehreren Zwischenschritten mittlerweile auf alle Rohstoffe (vor allem Tantal, aber auch Wolfram, Zinn und Gold) aus Zentralafrika, da mit deren Kauf Milizen und Söldner in Bürgerkriegen finanziert werden. Die Initiative begann 2008 und ist zum Jahresbeginn 2016 komplett umgesetzt.

 

Im Januar präsentiert Deutschlandradio Wissen die Forschungsergebnisse des Ökonomen Max Roser. Roser beschäftigt sich in Oxford mit Lebensstandards. Sein Schluss: Uns geht es besser denn je.

 

Im Februar konnten zumindest die PhysikerInnen samt interessierten Laien jubeln: Am 11. Februar konnten Forscher des US-Observatoriums Ligo etwas bekannt gegeben, was in Fachkreisen sofort als Sensation gehandelt wurde: Ihr gigantisches Messgerät hatte Wellen aus dem Weltall eingefangen, wie es sie laut Albert Einstein geben müsse. Der hatte diese Gravitationswellen schon im Jahr 1916 beschrieben – nur nachweisen konnte sie bis zum Jahr 2016 niemand. Zufällig gelang das genau 100 Jahre später.

 

Im März 2016 veröffentlicht die Ärztezeitung eine Spendenstudie für Deutschland im Jahr 2015. Das Ergebnis: Die Deutschen spenden mehr als je zuvor.

 

Im April findet sich im Handelsblatt ein Artikel über die Erfolgsgeschichte der EinDollarBrille. Hintergrund: Mehr als 150 Millionen Menschen auf der Welt bräuchten eine Brille, und noch einmal 550 Millionen zumindest eine Lesebrille, aber sie können sich keine leisten. Kinder können nicht lernen, Eltern können nicht arbeiten und für ihre Familien sorgen. Die EinDollarBrille besteht aus einem leichten, flexiblen Federstahlrahmen. Sie wird von den Menschen vor Ort selbst hergestellt und verkauft. Die Materialkosten: rund 1 US-Dollar. Die Idee stammt von dem Lehrer Martin Aufmuth.

 

Großartig ist auch die Geschichte des „Waldmachers“ Tony Rinaudo, der entdeckt hat, wie sich verödete Gebiete in Afrika auf sensationelle Weise begrünen lassen. Der Schweizer Tagesanzeiger berichtet im Mai darüber.

 

Juni: Sommerpause.

 

Juli: Es könnte eine kleine medizinische Sensation sein. Wissenschaftler der Universität Duisburg-Essen verkünden einen Durchbruch bei der Frage, wodurch Multiple Sklerose ausgelöst wird. Außerdem: Immer neue Erkenntnisse im Kampf gegen Krebs und Aids. Und Erfolge im Kampf gegen die Malaria. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass viele von uns noch entscheidende  medizinische Verbesserungen gerade im Kampf gegen fiese Krankheitsbilder wie Krebs erleben werden.

 

August: Große, dreisprachige Umfrage unter Flüchtlingen zu ihrem Bild von Deutschland von der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft. Ergebnis: Die übergroße Mehrheit der Flüchtlinge fordert eine klare Trennung von Staat und Religion und bekennt sich ausdrücklich zur Demokratie. Allerdings liegt bei vielen Flüchtlingen ein anderes Demokratie-Verständnis zu Grunde. Das Wertebild vieler Flüchtlinge ist in Bezug auf Ehe, Sexualität und Familie konservativ und ähnelt in zentralen politischen Teilen am ehesten dem der AfD-Anhänger und anderer rechtspopulistischer Bewegungen. Anders als von Rechtspopulisten behauptet, meinen die meisten Flüchtlinge, dass Frauen und Männer die gleichen Rechte haben sollten.

 

Am 2. September veröffentlicht die Evangelische Kirche Deutschland das Ergebnis von repräsentativen Umfragen zum Thema „Hilfe für Flüchtlinge“. Die Befragungen wurden zwischen dem November 2015 und August 2016 durchgeführt. Ergebnis: Trotz Anschlägen und Dauerfeuer der rechten Hetzer (vor allem in den sozialen Medien): Die Deutschen wollen Menschen in Not helfen. Drei von vier Deutschen können sich einen persönlichen Beitrag zur Flüchtlingshilfe vorstellen. Die Zahl der in der Flüchtlingshilfe Engagierten  ist 2016 weiter gestiegen (November 2015: 10,9 Prozent, Mai 2016: 11,9 Prozent).

 

Oktober:  Australien verbietet Tierversuche für Kosmetika. (In Indien werden seit Juni 2013 keine Tierversuche für Produkte und Rohstoffe in der Kosmetik geduldet.) Auch interessant: In Ruanda sind seit 2006 Plastiktüten komplett verboten. Wird eine gefunden, soll sie recycelt werden. Ruanda hat sich das Ziel gesetzt, in naher Zukunft ganz plastikfrei zu sein.

 

Noch etwas Erfreuliches aus dem Monat Oktober: Der Kampf gegen den Klimawandel könnte dank eines Versehens einen großen Schritt weiter gekommen sein. US-Forscher haben durch Zufall eine Methode entdeckt, mit der sich CO2 in Ethanol umwandeln lässt, das als Treibstoff genutzt werden kann – kostengünstig und ohne großen Aufwand.

 

November: Ganz wichtig: Kuscheln hilft gegen Novemberblues. so der Leipziger Haptikforscher Martin Grunwald laut Unsere Kirche – der Zeitung mit der guten Nachricht.

Kommentar von Schallblech, 18. November 2016, 11:19 Uhr: „Was ist neu daran? ;) Interessant ist nur, daß Blechbläser ähnliche Erfahrungen machen, außer, dass der Atem eher tiefer wird. Also: Kuscheln oder Posaune üben!“

 

Dezember: Kurz vor seiner Amtsübergabe an Donald Trump erklärt Obama Gebiete in der Arktis von der Größe Spaniens und 31 Unterseecanyons im Atlantik zu Schutzzonen. Für diese Gebiete dürfen keine neuen Lizenzen für Öl- und Gasbohrungen vergeben werden. Damit sollen die einzigartigen und vielfältigen Ökosysteme sowie die Interessen der Ureinwohner geschützt werden, hieß es aus dem Weißen Haus. Der Schritt Obamas erfolgte in Kooperation mit Kanadas Premier Justin Trudeau, dessen Regierung ebenfalls einen Stopp entsprechender Lizenzen für arktische Gewässer verhängte.

 

Noch was: In Dresden trifft sich Pegida. Aus Dresden stammt auch die Organisation Friends of Dresden, die einen „Internationalen Friedenspreis“ vergibt. Dieses Jahr ging der Preis an Domenico Lucano, den Bürgermeister des italienischen Örtchens Riace. Der Bürgermeister von Riace schuf mit dem »Dorf des Willkommens« ein einzigartiges Projekt des Miteinanders von Italienern und Flüchtlingen. Seit 18 Jahren werden hier in großer Zahl Migranten aufgenommen und mit Wohnung, Arbeit sowie Sprachunterricht in das Dorfleben integriert. Von derzeit 1800 Bewohnern Riaces kamen 550 als Flüchtlinge, belebten das Dorf und verhinderten die Schließung der örtlichen Schule. Inzwischen kommen aus aller Welt Besucher nach Riace, um sich dieses Maßstäbe setzende Modell im Umgang mit Migranten anzuschauen.

 

Noch ein Nachtrag: Auch die Superreichen können sich 2016 (mal wieder) freuen (harharhar), konnten sie doch ihr Gesamt-Vermögen im Jahr 2016 um 237 Milliarden Dollar steigern. Ob damit alle etwa 2000 Milliardäre gemeint sind oder nur die Top-50 oder Top-100 ist dem etwas fischigen Artikel leider nicht zu entnehmen.

 

Abschließend noch ein paar weitere aufmunternde Links. Die NZZ präsentiert einen positiven Jahresrückblick. Hier finden sich in einem etwas älteren Artikel 20 Gründe, warum das Leben heute besser ist denn je. Und hier kommt Medizinprofessor Hans Rosling zu Wort: Die Welt wird besser und keiner glaubt es.

 

So, danke, euch allen ein citrus-frisches Jahr 2016 voller guter Ideen und Taten, und tschüss!

 

P.S.: Vielleicht sollte ich das Cortison absetzen. Das Zeug macht hammer-high.

 

 

 

 

 

 

 

 

0 Kommentare

Große Bücher aus kleinen Verlagen: "Kriechtiere" von Frank Brendel

Der sehr kleine Hamburger Verlag Punktum verfügt über ein überschaubares, professionell

gestaltetes Programm. Dazu zählt das 220 Seiten schlanke Roman-Debut von Frank Brendel,

das bereits 2015 als "Das Feld" vom Autor im Eigenverlag herausgegeben wurde.

Patricia Paweletz und Gabi Schnauder von Punktum-Bücher haben ein gutes Gespür bewiesen,

als sie diese Perle in ihr Verlagsprogramm aufnahmen. Zwar bringt die alltagsnahe Sprache das

Beschriebene nicht eigens zum Leuchten, aber dafür finden sich auch keine Manierismen und

Stilbrüche. Die unpoetische aber klare Sprache dient  als unkomplizierter, vertrauenswürdiger Führer

in die Textwelt. In dieser finden vier Personen an einem Flughafen zusammen. Weil durch den Ausbruch

eines isländischen Vulkans der Flugverkehr eingestellt worden ist, teilen sich der schmierige Lars Kleinschmidt,

die introvertierte Inga Zager, der Nerd Matthias Sobiel und die zugleich toughe und traumatisierte  Yasmin Halabi

einen Mietwagen.  Auf ihrer nächtlichen Fahrt geraten sie immer weiter vom Weg ab und schließlich in ein riesiges

Maislabyrinth, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint.

 

"Kein Wunder, dass die Uhr stehen geblieben war, überlegte Sobiel. Wie sollte sie auch messen, wie lange man von A nach B braucht, wenn es hier überhaupt kein B gab? Stattdessen nur eine unendliche Anzahl von identischen A's ... Eine Sinnestäuschung? Ein bizarres Experiment? Ein Hinterhalt? Ein Fluch?"

 

Das Buch ist Klasse! Es richtet sich lässig zwischen U und E und Genres wie Thriller, Roadmovie und Drama ein.

Frank Brendel meistert souverän sowohl die zahlreichen Perspektivwechsel, als auch die Rückblenden,

in denen die vier Charaktere immer greifbarer werden. Dabei wahrt der Autor eine warmherzige Distanz zu seinen

Figuren. Brendel bedient weder sentimentale Stimmungen noch die Lust am oberflächlichen Verurteilen. Auch

Kleinschmidt, der zunächst am wenigsten zur Sympathie einladende Charakter, kam mir zunehmend näher und wuchs 

dabei aus der Eindimensionalität des Blödmanns zu einem Menschen, wie er nun einmal jetzt nicht anders sein kann.

 

Neben der gelungenen Polyperspektive und dem reifen Menschenbild sehe ich die große Stärke Brendels in seinem

Zugang zur Welt, die er als großes, staunenmachendes Wunder beschreibt . Die innere wie die äußere Wirklichkeit sind bei Brendel durch Aufklärung und Wissenschaften nicht kleiner und geheimnisloser geworden. Im Gegenteil: Der magische Realismus geht hier Hand in Hand mit einem großen, teilweise nerdigen Interesse an wissenschaftlichen Phänomenen, ohne durch weltanschauliche Eindeutigkeit platt zu werden. Es mag sein, dass manche Leser Ausführungen zu Tiefsee, Quantenmechanik oder dem Materieerhalt im Universum langweilig finden, ich finde sie toll. Und wenn Brendel am Ende einer zunehmend unheimlichen Reise die Hoffnung quasi-wissenschaftlich als selbstverständliche Kostbarkeit des Universums definiert, dann stellt er sich in eine an den guten Möglichkeiten der Menschen interessierte Tradition, die von Paulus bis zu den Humanisten reicht und mir bleibt zu sagen: Guter Autor, gutes Buch, mehr davon!

0 Kommentare

Zum Hören auf Weblesungen: "Brief an meine ungeborene Tochter"

Dank des für die Literatur in Hamburg fulminant umtriebigen Rüdiger Käßner existiert nun diese Aufnahme eines

seltsamen Textes von mir:

 

http://www.literaturinhamburg.de/Weblesungen.php

 

Bei den Weblesungen gibt es noch über 800 andere Texte zu erhören.

0 Kommentare

Tier oder Gott. Ein Gespräch mit Frédéric Valin in "Der Freitag".

Heute findet sich in der Wochenzeitung "Der Freitag" ein Gespräch, dass der Autor Frédéric Valin mit mir über meinen Roman "Vom Licht" geführt hat. Es ist die immer noch lange Kurzfassung eines dreistündigen Gesprächs.
 
Tier oder Gott
Anselm Neft ergründet das Totalitäre und Tragikomische in der menschlichen Suche nach dem Sinn
 
Eine verlassene Ecke in Oberösterreich. Adam, Anfang 20, sitzt im Dachgeschoss eines Selbstversorgerhofs und lässt seine Kindheit Revue passieren. Zusammen mit der drei Jahre älteren Manda wurde er aus einem Heim adoptiert und von den radikalen Gnostikern Norea und Valentin aufgezogen. Eine Schule hat er nicht besucht, kaum einmal andere Menschen
zu Gesicht bekommen. Jetzt, nach Jahren religiösen Hausunterrichts, versucht Adam, nachzuvollziehen, wie er der wurde, der er ist, und was er tun kann, um trotzdem weiterzuleben. In seinem neuen Roman Vom Licht erzählt Anselm Neft eindrucksvoll und sprachgewaltig von einer fragilen Selbstvergewisserung.
 
der Freitag: Herr Neft, Religion hat momentan in der westlichen Literatur keinen sehr hohen Stellenwert, insbesondere nicht ihr mystischer Anteil. Und Sekten sind besonders übel beleumundet. Auch bei mir. In Ihrem Roman wirkt die Spiritualität in ihrer Ernsthaftigkeit aber auf mich gleichermaßen unwirklich und anziehend.
 
Anselm Neft: Es ist nicht meine Absicht, Werbung für die Gnosis oder Aussteigersekten zu machen. Im Grunde wissen ja alle, wie schlimm Sekten sein können, und die, die es noch nicht wissen, brauchen nicht mich, um das herauszufinden. Dazu gibt es schon genug anderes. Die Ablehnung gegenüber Religion insgesamt, wie sie zum Beispiel die New Atheists
praktizieren, geht mir allerdings zu weit, und zwar nicht zuletzt aus ganz pragmatischen Gründen. Wenn man Religion generell lächerlich macht, kann man – beispielsweise in der islamischen Welt – sehr schwer vermitteln. Zu sagen, die Gemäßigten machen ja erst mal nichts so Schlimmes, aber im Kern sind die genauso bekloppt wie die Terroristen – das ist kein konstruktiver Ansatz. Wenn alle Religionen immer scheiße sind, dann fallen die Differenzen weg und damit das humane Element. Ich halte den neuen Atheismus in seiner hemdsärmeligen Variante also für unkonstruktiv. Aber er ist auch lustig. Der Autor des Bestsellers Gotteswahn, Richard Dawkins, beispielsweise verweist gern auf den Dunning-Kruger-Effekt, also dass in einem Bereich inkompetente Leute ihre eigene Inkompetenz verkennen und den Wissensvorsprung anderer nicht mehr anerkennen können. Natürlich spricht er über sich selbst. Die Pointe entgeht ihm, das macht das Ganze besonders komisch.
 
Der Freitag: Ihr Buch wirkt völlig aus der Zeit gefallen, wie ein Traum. Der Schriftsteller und Kritiker Dietmar Dath sagte, es sei wahr und fantastisch zugleich.
 
Neft: Das ist eine Beschreibung, mit der ich sehr glücklich bin. Mir ging es nicht darum, nur abzubilden, was ist, sondern auch um die Frage, welche Mythen die Realität strukturieren und das Begehren hervorbringen, das dann wieder Wirklichkeit formt. Das wirkt entrückt, ist aber hoffentlich nah dran an der Quelle, aus der sich unsere Wirklichkeit speist.
 
Der Freitag: Die Frage, ob es sinnvoll ist, nach dem Sinn zu suchen, bleibt am Ende unentschieden.
 
Neft: Mich hat interessiert, wie es kommt, dass man über Sinn nachdenkt, was ja bedeutet, sich selbst und die eigene Prägung in Frage zu stellen. Und mich hat interessiert, wohin eine solche Auseinandersetzung führt. Es klingt nach einer steilen These: Aber in der Suche nach Sinn liegt bereits etwas Totalitäres. Der Wunsch, den Menschen, so wie er jetzt ist, zu verbessern und eigentlich zu überwinden. Ob durch religiöses Streben, Heldenkult,
Faschismus, den Posthumanismus aus dem Silicon Valley oder vielleicht auch den im Veganismus angestrebten hundertprozentigen Gewaltverzicht – es ist typisch menschlich, das Menschsein überwinden zu wollen. Tiere kennen das nicht, jedenfalls vermutlich nicht. Sie sind einfach das, was sie sind, und kämpfen nicht dagegen an. Das Bedürfnis, entweder Tier oder Gott zu sein, das Verletzliche zu überwinden, nicht zwischen Himmel
und Erde zu stehen, sondern unverrückbar zu sein – dieses Bedürfnis ist ein tragikomisches. Es gibt für mich in der Auseinandersetzung mit diesen Fragen keine finale Antwort, aber etwas Erdendes, etwas Melancholisches.
 
Der Freitag: Ihr Protagonist Adam versucht, den Sinn durch Schreiben zu ergründen; gleichzeitig aber misstraut er den Worten, sie zerfließen ihm unter der Hand.
 
Neft: Ja, das ist die Tragik des Schriftstellers. Mich hat das Schreiben an Vom Licht, vorsichtig ausgedrückt, in einen Zustand leichter Melancholie versetzt, weil es mir ähnlich ging wie Adam: Man versucht, mit Worten zu knacken, was durch Worte entstanden ist. Das ist ein absurder Prozess, weil Selbstvergewisserung oft eher Selbstvernebelung ist, aber dennoch einer, der angesichts der Alternativen am meisten taugt. Ich denke, wir kommen nicht drumherum, die Scheiße, die andere und wir selbst mit Worten anrichten, durch andere Worte wieder neu zu rahmen und dadurch neue Sinneinheiten zu stiften. Eine Evolution der Kultur, die aber kein Ziel haben muss, außer ständig neuen Quatsch zu
fabrizieren und zu verhindern, dass es noch schlimmer wird.
 
Der Freitag: Und daraus entsteht dann der absurde Humor.
 
Neft: Ja. Ich mag die nihilistische Perspektive, wenn sie nicht auf einen Kulturpessimismus, sondern auf Humor hinausläuft; wie bei Beckett zum Beispiel. Ich finde auch "Vom Licht" auf bestimmte Weise lustig. Adam macht einen riesigen Klimbim mit Worten, und am Ende merkt er, dass man damit alles und nichts begründen und ganze Welten erschaffen und wieder zerstören kann. Der Prozess ist unterhaltsam, aber das ist nicht der Weg, eine für sich selbst richtungsgebende Wahrheit zu entdecken. Am Ende zieht Adam eine Konsequenz und verabschiedet sich von der Sprache.
 
Der Freitag: Was ihn aber in die Autonomie führt, was ihn unabhängig macht von Norea, ist sein Begehren, das sich einerseits inzestuös manifestiert…
 
Neft: Das halte ich geradezu für stilbildend in Sekten.
 
Der Freitag: … andererseits aber auch durch die Lektüre de Sades, des brutalsten Aufklärers.
 
Neft: Dass der Marquis de Sade der Brutalste der Aufklärer war, mag für seine Schriften gelten. Tatsächlich aber zeigte er sich praktisch als Humanist. Robespierre berief de Sade als Revolutionsrichter, und im Rahmen dieser Tätigkeit sollte er natürlich auch Todesurteile aussprechen. De Sade aber weigerte sich, weil ihm Töten aus politischen Gründen pervers vorkam; dafür wäre er beinahe seinerseits auf dem Schafott gelandet. Aber ich denke nicht, dass die Lektüre von de Sade Adam ausbrechen lässt. Es ist eher sein Wille, zu leben und sich zu entfalten.
 
Der Freitag: Die Zieheltern sind Gnostiker, die die Aufklärung hinter sich gelassen und sich aus der Welt genommen haben. Adam selbst kommt am Ende über die Worte zur Entscheidung,
dass er was tun muss, und zieht in die Welt hinaus; oder vielmehr: Er kämpft sich in die Welt hinein.
 
Neft: Ja, diese Lesart gefällt mir. Die Zieheltern sind nicht trotz, sondern gerade wegen der Aufklärung religiös geworden. Ihr Wappenspruch wäre ein „Credo quia absurdum“. Für sie gehören, wie Wittgenstein sagte, Tatsachen alle zur Aufgabe, nicht zur Lösung; diese Einsicht nehmen sie als Freibrief. Wir könnten sie postfaktische und damit absolut zeitgemäße Menschen nennen.
 
Der Freitag: Heute manifestiert sich das Postfaktische ja vor allem in rechtsgerichteten Bewegungen, die einer ressentimentgeladenen Weltsicht nachspüren. Ihre Anhänger werden sich in dem Buch allerdings nicht wiederfinden. Was Trump, Petry, Pegida und so weiter auszeichnet, ist ja gerade ihr selbstsicherer Auftritt; davon sind Norea und Valentin weit entfernt.
 
Neft: Das sollten wir den Lesern überlassen, welche Parallelen sie entdecken. Ich kann nur vermuten, dass Valentin und Norea womöglich gerissener, konsequenter und ein bisschen offensichtlicher depressiv, verzweifelt, auch suizidal sind als der übliche Populist. Sie haben weiter gedacht, sie glauben nicht an eine immanente Lösung: Hedonismus, Faschismus, Kommunismus – das ist für sie alles Quatsch, da es nur unter irdischen, also begrenzten, vergänglichen, höchst störanfälligen Bedingungen auf den Weg zu bringen ist. Ihre Kritik setzt am Körper an, am Dasein an sich. Adam ist durch sie geprägt. Wenn er leben will, muss er sich gedanklich, emotional und physisch gegen diese Positionen behaupten.
 
Der Freitag: Und der erste Schritt dazu ist das Schreiben.
 
Neft: Ja.
 
Der Freitag: Das rehabilitiert die Kultur wieder.
 
Neft: Wir werden da also nie ganz rauskommen. (lacht und bestellt
eine Linsensuppe).
 
Das Gespräch führte Frédéric Valin
der Freitag | Nr. 44 | 3. November 2016
 
0 Kommentare

Interview in einer Zeitschrift für Eperimentelles

Die Novelle -- Zeitschrift für Experimentelles führte mit mir ein bodenständiges Interview zum Thema "Bedingungsloses Grundeinkommen".

 

27 Kommentare

Radiobeitrag über die alte Frage "Unterhaltung oder Literatur?"

Im Literaturradio Bayern  wurde Anfang August dieses kleine Feature gesendet. Thema: Warum gibt es inbesondere auf dem deutschsprachigen Buchmarkt die Trennung zwischen ernsthafter Literatur und Unterhaltung? Welchen Kriterien unterliegt sie? Was bedeutet dies für Autoren, die mit ihren Werken weder klar in die eine noch in die andere Schublade passen? Tanja Steinlechner, Autorin und Lektorin und Betreiberin der Autorenschule "Schreibhain" hat für ihren Beitrag das Autorenduo "Ule Hansen", die  Autorin Henrike Spohr, die Literaturagentin Gesa Weiss und mich befragt.

 

14 Kommentare

Sex für Anfänger -- zur Verfilmung von 50 Shades of Grey

 

Das Handwerk des Satirikers ist ein fragwürdiges. Anstatt sich mit dem Wahren, Schönen und Guten zu befassen, wühlt er wie eine Sau im Dreck, um die fiesesten Klumpen heraus zu zerren und so lange zu bearbeiten, bis sie feinziseliert vor den Augen der Weltöffentlichkeit liegen und lauthals belacht werden können. Während also andere an diesem Karnevals-Donnerstag bei erlesenem Sonnenschein als Pilz, Politesse oder Pandabär durch die Straßen irrlichtern und gutgelaunte Alkoholiker und Sexsüchtige ihre Passionen als Brauchtumspflege ausleben können, sitze ich in einem kleinen zugigen Kino und sehe mir „50 Shades of Grey“ an. Ich hebe den Altersdurchschnitt deutlich. Der zu zwei Dritteln gefüllte Raum gehört der Jugend. Ob die vielen Mädchen und vereinzelt eingestreuten Jungen tatsächlich um die 16 Jahre alt sind, wie ich glaube, oder doch ein paar Jahre  älter, kann ich ohne Ausweiskontrolle nicht ergründen. Ich setze mich in die erste Reihe und zücke Stift und Kladde. Das wirkt sicher seriös.

 

Bereits die Werbung hat es in sich. Gleich zweimal wird ein Produkt namens Vagisan eingeblendet. Wer diese Feuchtcreme nutzt, braucht kein Gleitgel mehr. Ein Mädchen in der Reihe hinter mir sagt: „Ey, personalisierte Werbung für dich, Julia!“ Ob hier noch jemand Pornosan kennt, das heiße Phantasietonikum unserer heißlebigen Zeit? Egal. Skizzieren wir lieber die Handlung von „50 Shades of Grey“: Ein romantischer, intelligenter Backfisch namens Anastasia Steele lernt durch ein Interview für die Uni-Zeitung den 27jährigen Milliardär Christian Grey kennen und findet ihn atemberaubend, wie er da so souverän und semi-charmant in seinem riesigen Hochglanzbüro im Chefsessel sitzt. Anastasia ist gekleidet wie eine Zeugin Jehovas und gibt Christian vielleicht gerade deshalb das Gefühl, erkannt zu werden. Als er sagt Die Menschen, die mich gut kennen, sagen, ich habe kein Herz, sagt sie: „Ich glaube irgendwie nicht, dass es Menschen gibt, die Sie gut kennen.“ Volltreffer!

 

Es entspinnt sich eine verkorkste Liebesgeschichte, in der früh Sätze fallen wie: „Ich bin nicht der Richtige für dich. Es ist besser du gehst.“ Oder auch „Du triffst den Hagel auf den Nopf!“ (Nein, das denke ich mir nicht aus.) Klar, dass die Studentin durch diese rätselhafte Angebotsverknappung richtig Feuer fängt. Sie will mit Christian schlafen, aber er sagt: „Ich schlafe nie mit jemandem, ich ficke.“ Und damit ist der Kernkonflikt bereits auf den Punkt gebracht. Sie will mit ihm schlafen, er will sie ficken. Wer kennt das nicht? Kaum beginnt man eine Intimbeziehung führt man schillernde Dialoge:                         

 

Er: „An dieser Lippe würde ich gerne knabbern.“                                                                       

Sie: „Warum tust du es nicht?“                        

Er: „Ich werde dich nicht berühren. Nicht ohne deine schriftliche Einwilligung.“

 

Moderne Beziehungen sind ja ein komplexer Prozess, in dem zwei Individuen einen gemeinsamen modus vivendi aushandeln. Okay, du darfst ab jetzt kontrollieren, mit wem ich wann was mache, dafür verhalte ich mich zwischen 15.00 und 22.00 Uhr wie ein trotziges Kleinkind. Und wenn ich dir jeden ersten Samstag im Monat ins Gesicht spritzen darf, dann komme ich Weihnachten mit zu deinen Eltern. Bei der Uni-Absolventin und dem jungen Self-Made-Milliardär ist es nicht anders. Sie treffen sich zu einem verrucht ausgeleuchteten Businessmeeting bei Weißwein und Sushi und gehen einen von Christian aufgesetzten Vertrag durch. Anastasia unterschreibt ihn nicht. Vertragspunkte wie „Analfisting“ und „Genitalklammern“ streicht der kleine Frechdachs sogar einfach durch. Als Christian ihr sein Spielzimmer zeigen will, fragt sie: Ist da deine X-Box drin? Nein, es ist keine X-Box da drin. Da drin sind Peitschen und Handschellen und ein dunkelrot bezogenes Bett. Christian möchte der Dominante sein, Anastasia soll die Subdominante sein – so wird für ihn Musik draus. Sie fragt, was sie davon hat. Er antwortet: „Mich.“                                                                                 Teufel, denke ich, der Kerl hat es raus.                                               

Kurz darauf ergänzt er: „Wenn du einwilligst, meine Sklavin zu sein, dann bin ich dir treu ergeben.“ Damit bringt Christian das traditionelle Mann-Frau-Arrangement lässig auf den Punkt. Gerade die Anhänger abrahamitischer Religionen sollten hier aufhorchen und "50 Shades of Grey" als inspirierende Aufforderung begreifen: Anstatt sich wegen dröger Detailfragen in Zwistigkeiten zu verzetteln, sollten sich Christen, Juden und Moslems solidarisieren und auf eine gemeinsame Kernkompetenz fokussieren: Frauen klein halten.

 

Vielleicht haben die Kapitalisten längst den besseren Mythos zur Hand, um Mann und Weib gefügig zu machen und bis tief hinein ins persönliche Begehren zu formen: Was kümmert die Jungfrau von heute das Paradies, wenn sie als Alpha-Weibchen reüssieren kann? Ganz so leicht ist es mit den Mädels allerdings nicht. Anastasia hat ihren eigenen Kopf. Darin wuchert die Frage: Ist Mr. Rich auch Mr. Right? Zunächst denkt sie sich: Schwamm drüber, das wird schon. Sie lässt sich von Christian entjungfern und ein bisschen herumkommandieren und auch mal väterlich den Hintern versohlen. Das ist konventionell gefilmt, aber für Hollywoodverhältnisse nicht besonders künstlich, dämlich oder pornografisch. Erotisch ist das auch nicht: Christian mit den kurzen Daumen und der Ausstrahlung eines verklemmten Serienmörders ist einfach zu abtörnend. Fehlende natürliche Autorität muss der lurchhafte Muskelmann mit dem zerissenen Innenleben ständig mit Geld und Manipulationstricks (vom überteuerten Geschenk über unangemeldetes Aufkreuzen bis zur herzergreifenden Kindheitsgeschichte) ausgleichen. Ganze Generationen von Machos schütteln pikiert mit dem Kopf.

 

Als Christian in seinem Spielzimmer zur Peitsche greift und damit sechsmal aufs Gesäß seiner Herzensdame drischt, die jeden Schlag mitzählen soll, reißt ihr der Geduldsfaden und sie macht Schluss. Er versucht, sie umzustimmen, aber sie geht und der Film ist aus. Vorher hat Christian noch erzählt, dass er der Sohn einer Crackhure ist, im Alter von vier Jahren in bessere Verhältnisse adoptiert wurde und mit 15 ein Verhältnis zu einer Freundin seiner Mutter hatte. In diesem war er der Sexsklave. Seltsamerweise sagt er Anastasia, dass er sich frei und geborgen fühlte, wenn er die Kontrolle abgab. Man fragt sich, warum er  sich diese Freiheit und Geborgenheit nun versagt. Aber geschenkt. Einigen wir uns darauf, dass der junge Mann, der eine sehr ernste und froschhafte Variante des frühen David Hasselhoff verkörpert, einfach nicht aus seiner Haut heraus kann. Sein sexueller Fetisch – wenn auch anfangs aufregend für das unerfahrene Mauerblümchen – ist Anastasia auf lange Sicht zu festgefahren, unpersönlich und lässt ihr zu wenig Entwicklungsmöglichkeiten. Da Christian ein zwanghafter und übergriffiger Kontrollfreak mit Angst vorm Kuscheln ist, vermag er Anastasia trotz etlicher Baumarkt-Utensilien auf lange Sicht nicht zu fesseln.                          

 

In meiner Kladde habe ich acht Minuten Blümchensex und knapp fünfzehn Minuten seichte Bondage- und SMS-Szenen notiert. Nichts, was man nicht mit der ganzen Familie gucken könnte. Antifeministisch ist der Film auch nicht. Im Gegenteil – das, wogegen sich Feministinnen unter anderem wehren – männliche Kontrollwut und erotischer Egozentrismus – werden hier liebevoll pathologisiert. Auch ein smarter, gutaussehender Milliardär beißt mit dieser Vollmeise bei einer freundlichen Dame aus der Mitte der Bevölkerung nach kurzer Zeit auf Granit. Vorher darf sie ein bisschen in ihren Unterwerfungsphantasien schwelgen und davon träumen, zu den 1% zu gehören, die den Rest der Welt in den Allerwertesten ficken. Hoffen wir, dass es keinen zweiten Teil gibt, indem Anastasia es sich anders überlegt.

 

Lohnt es sich, den Film zu gucken? Wer „Neuneinhalb Wochen“ zu aufregend fand, oder den eigenen Kindern schonend beibringen will, warum Papi und Mami jetzt nicht mehr zusammenleben, ist mit der ansprechend gefilmten und solide geschauspielerten Kinoversion von „50 Shades of Grey“ womöglich gut beraten. Ich fand den Film teils zäh und teils unterhaltsam. Im Großen und Ganzen ist das typische Hollywood-Romanzen-Konsumenten-Pornographie mit Luxushotels, feschen Autos und Hubschrauberflügen. Erfrischend wird es, wenn die neugierige, junge Frau, dem in sich gefangenen Fetischisten Paroli bietet. Da wäre eine starke Komödie drin gewesen, stattdessen hagelt es ernst gemeinte Dialogsegmente wie „Wir sollten miteinander reden.“ Oder: „Wieso lässt du mich nicht an dich ran?“ Oder: „Die größte Angst, ist die in deinem Kopf.“ Von der kleinen Angst im Arsch redet allerdings niemand.                                   

Extrem wache Chronisten der Gegenwart – qui, c’est moi – werden auch aus dem labbrigen Kelch dieser cineastischen Sumpfblüte soziologischen Nektar zu saugen wissen. Wenn weltweit 100 Millionen Leser und vor allem Leserinnen diese schlichte, unblutige und kaum noch metaphorische Dracula-Variante goutieren, heißt es, einmal genauer hinzusehen. Was wird hier über Mann-Frau-Beziehungen im 21. Jahrhundert erzählt?                           

1. Die Anforderungen sind gestiegen. Für eine Frau reicht es heutzutage nicht mehr, jung und gutaussehend zu sein. Sie muss auch aufgeschlossen und klug sein. So sagt Anastasia ganz am Anfang wie nebenbei: „Ich habe ein Navi und einen Durchschnitt von 1,0.“ Für die Männer kommt’s noch dicker: Christian Grey hat nicht nur ein paar Milliarden, etliche Autos und Hubschrauber, er hat auch ein Sixpack, kann melancholische Klavierstücke spielen, weiß, das Thomas Hardy nicht der Kompagnon von Stan Laurel gewesen ist und vermag ein rührendes Kinderschicksal ins Feld zu führen. Und trotz alle dem bekommt er am Ende einen Korb, weil er im Bett schwächelt.                                                                       

 

2. Nähe-Distanz-Fragen und unterschiedliche Auffassungen von Romantik dominieren die moderne Zweierbeziehung, die sich im traditionellen Dreieck aus Macht, Sex und Ökonomie ihr behagliches Plätzchen suchen möchte. „Warum Liebe weh tut“ heißt ein postmoderner Klassiker. Darin untersucht die israelische Soziologin Eva Illouz heutige Liebesbeziehung anhand von Begriffen des Tauschs zwischen ungleichen Marktteilnehmern. Anders als in der Romantrilogie suggeriert die Verfilmung des ersten Teils von „50 Shades of Grey“: Bei allem Geld und aller Macht ist Christian mit seinem Zwang, alles zum Ding machen zu müssen, selbst eine defekte Ware, die jeder umtauschen würde, der keinen kompatiblen Dachschaden hat.

 

3. Geschäftsverträge werden auch im Privatleben immer wichtiger.                             

 

4. Weibliche Unterwürfigkeit ist eigentlich eine prima Sache für Menschen, die das wilde, freie Sexualleben überfordert. Die Frau kann kaum was falsch machen. Sie liegt oder kniet rum, wie ihr aufgetragen wird, und der Mann ist verantwortlich für die Show. Der Mann wiederum braucht keine Angst zu haben, dass die Frau mit eigenen, vielleicht sogar spontanen Sexeinfällen die ganze Stimmung zu Nichte macht. Der Mann minimiert seine Angst davor, nicht zu begehren, in dem er seine Masturbationsphantasien ungestört nachstellen kann. Die Frau minimiert ihre Angst, nicht begehrt zu werden, indem sie zur willen- und verantwortungslosen Puppe wird. Alles ausgehandelt nach Regeln, die im wilden Dickicht der Erotik Sicherheit geben. Sexuellen Anfängern, wie zum Beispiel Teenagern*, Salafisten-Imamen oder anderweitig Beeinträchtigten, ist der gezeigte reaktionär-geschlechtsspezifische Sadomasochismus als leichter Einstieg zu empfehlen. Man muss es ja nicht gleich übertreiben wie die Protagonistin in Lars von Triers „Nymphomaniac“. Dieser Film hat zwar mit „50 Shades of Grey“ nur eine sehr geringe Schnittmenge was intellektuelle Komplexität, Ästhetik, Tiefe der Figurenzeichnung, ironische Brechung und Realitätssättigung angeht. Es gibt aber doch eine nicht unerhebliche Gemeinsamkeit: Beide Filme blicken ohne zu urteilen auf problematische Seiten der Sexualität. Wer sucht sich schon aus, was ihn oder sie kickt?

 

Ich gehe vergnügt aus dem Kino. Mein Sexualleben ist reicher und aufregender als das eines gestählten 27jährigen Multimilliardärs, den viele Millionen Leserinnen in ihren harmlosen Phantasien heraufbeschwören. Und das ist für die nachmittägliche Dreckwühlerei eines Teilzeit-Satirikers doch allemal ein erfreuliches Ergebnis.

  

 

* Der Philosoph Adam Phillips behauptet in seinem lesenswerten Essay "Sane Sex", dass die meisten von uns sich gerade sexuell nie ganz von der Pubertät erholen.  

 

mehr lesen 0 Kommentare

Der weibliche Weg zum Glück -- über biologische Forschung contra Gendertheorie

 

Weil gerade der Tagesspiegel eine brandneue Studie vorstellt, anhand derer Biologinnen und Biologen die Theorie aus den Angeln heben wollen, dass Geschlecht ein gesellschaftliches Konstrukt ist, möchte ich einen Artikel zum Besten geben, den ich zu einem Spiegel-Aufmacher aus dem Jahre 2008 verfasst habe. Darin wird eine vergleichbare, semi-seriöse Studie als heißer Scheiß ausgegeben. Hier meine semi-seriöse Anmerkung dazu:

 

Fast immer wenn ich gerade denke, dümmer geht es in Sachen Mediennarretei nicht mehr, kommt eine neue Ausgabe des Spiegel heraus und beweist: Oh wohl, es geht noch dümmer! Tatsächlich musste ich heute morgen am Kiosk zweimal hinsehen, als ich die neue Ausgabe sah: „Die Biologie des Erfolgs. Warum Frauen nach Glück streben – und Männer nach Geld.“ Der effektheischende Gedankenstrich vor „und Männer“ wäre gar nicht nötig gewesen, um zu verraten, dass hier eine neue journalistische Meisterleistung der Lektüre harrte. Natürlich kaufte ich das Blatt nicht, sondern las es in einem nahe gelegenen Café. Es gibt eine Faustregel: Erinnert das Titelbild einer Spiegel-Ausgabe an die Bildchen, mit denen die Zeugen Jehovas ihre Broschüren verzieren, dann geht es um etwas Religiöses – um Gott, Gene oder Geschlecht. Diesmal sitzen im orangefarbenen Rahmen ein nackter Mann und eine nackte Frau auf verschiedenen Planeten. Der Leitartikel baut erst einmal mächtig Spannung auf: Ja, es gehe um die Unterschiede zwischen Mann und Frau. Das sei ein heißes Eisen. Ganz neue Erkenntnisse stünden da ins Haus, denn diesmal ginge es nicht um Stammtischgerede, diesmal wären es nicht die Ideen eines Bischof Mixa oder einer Eva Hermann, nein, diesmal hätte eine echte Wissenschaftlerin etwas Sensationelles beizusteuern. Susan Pinker, eine Entwicklungspsychologin der McGill-Universität in Montreal. Und nicht nur Wissenschaftlerin sei sie, nein, auch Feministin, und sie sei über ihre eigenen Studien-Ergebnisse erschrocken, da sie ja mit der Vorstellung groß gezogen worden sei, Männer und Frauen wären vollkommen gleich und würden nur durch Erziehung und Milieu in Rollenförmchen gepresst.

 

Pinker hat ein Buch geschrieben, das dieser Tage auch auf Deutsch erscheint: The Sexual Paradox: Men, Women and the Real Gender Gap. Pinkers These darin ist erfrischend simpel: Frauen entscheiden sich öfter gegen eine Karriere als Männer, weil sie biologisch anders zusammengerührt sind als diese. „Die weibliche Hirnaktivität bremst Ehrgeiz im Wettbewerb.“ Damit man sich diesen komplizierten Sachverhalt besser vorstellen kann, druckt der Spiegel die Graphik eines Gehirns ab. Verschiedene Zonen darin sind mit blauen oder roten Punkten markiert, je nachdem ob das entsprechende Areal bei Frauenhirnen größer oder kleiner ist als bei Männerhirnen. So ist der Hypothalamus, der unter anderem die sexuelle Aktivität steuert, beim Mann größer. Das Areal das „für Gefühl zuständig ist“, ist bei der Frau größer. Der Spiegelartikel zeigt sich jedoch erstaunlich skeptizistisch: Es sei nicht sicher, ob die Größe eines Hirnareals irgendetwas über seine Dominanz oder Wirkung aussage, aber bei Ratten sei es schon so, dass es da so etwas wie Zusammenhänge gäbe. Also vermutlich. Und die Karriereentscheidungen von Ratten sind schon ein durchaus lohnendes Forschungsthema.

 

Ein anderer Forscher wird mit zwei spektakulären Experimenten zitiert. Baron-Cohen, ein britischer Psychologe und Direktor des Autismus-Forschungszentrums ARC in Cambridge, hielt männlichen und weiblichen Säuglingen, die je gerade einen Tag alt waren, abwechselnd ein Mobilé und ein menschliches Gesicht vor die halb-blinden Äuglein. Tatsache: Die Mädchen reagierten stärker auf das Gesicht, die Buben mehr auf das Mobilé. „Frauen und Technik passen schlecht zusammen“, weiß auch Frau Pinker.

 

Noch eindrucksvoller erschient mir aber die zweite Versuchsanordnung des Baron-Cohen: Grünen Meerkatzen wurden diverse Spielzeuge dargeboten, und siehe da: die Männchen schnappten sich Spielzeuglaster und Bälle, die Weibchen Stoffpuppen. Und da rede noch einmal jemand von Sozialisation! Ich selbst habe eben einen Test gemacht und bei den verschieden geschlechtlichen Zwillings-Babys meiner Nachbarn ein Pendel ausgepackt. Ohne zu wissen, welches Baby in welcher Wiege lag, schwang mein Pendel über der rosafarbenen Wiege im bauchig-harmonischen Kreis, über der blauen im männlich-markanten Quadrat.

 

Der Spiegel-Artikel verfolgt keine einheitliche Linie, plötzlich schlägt die muntere Betrachtung nämlich einen Haken, indem Susan Pinker mit folgender Aussage zu ihren hochmodernen Tomographen-Erkenntnissen über Männer- und Frauenhirne zitiert wird: „Meist sind die Unterschiede innerhalb eines Geschlechts deutlich größer als die zwischen Mann und Frau.“ Aber dann, so befiehlt es mir mein männlich-analytisches Gehirn zu denken, dann erklären diese Hirnstudien doch gar nichts. So möchte sich Pinker allerdings auch nicht verstanden wissen. Im „Spiegel-Gespräch mit der Entwicklungspsychologin Susan Pinker über die Irrtümer der Frauenbewegung und den weiblichen Weg zum Glück“ äußerst sich Pinker so: „Diese [biologischen] Unterschiede können eine enorme Bedeutung bekommen. Denken Sie nur an all die männlichen Geschäftsführer und die wenigen weiblichen. Um Geschäftsführer zu werden, muss man sehr getrieben sein und aggressiv. Vermutlich ist dabei Testosteron im Spiel.“ Potzblitz! Nicht nur, die vielleicht unterschiedlich großen Hirnbereiche, die eventuell bei Ratten, Schlüsse zulassen, die dann natürlich sehr reduktionistisch sind und mit vielen anderen Faktoren in Beziehung gesetzt werden müssten – nein, auch noch das gute, alte Testosteron, das vermutlich die Männer zur Karriere treibt. Mit derart bahnbrechenden Überlegungen empfiehlt sich Frau Pinker bereits jetzt für den Nobelpreis (der genetisch bedingt bisher zu 95% an Männer ging).

Und es ist ja eine bekannte Tatsache, dass sich alte Männer, deren Testosteronspiegel sinkt, kaum noch für Karriere interessieren und am liebsten in einen „Frauenberuf“ wie Bibliothekarin, Krankenschwester oder Klofrau wechseln möchten.

 

Susan Pinker will ja eigentlich nur spielen und meint es gar nicht böse, wie der vor sich hin irrende Artikel zu verstehen gibt. Sie wolle nicht leugnen, dass Frauen im Berufsleben oft diskriminiert würden und vieles an sozial erlerntem Verhalten liege, nur eben die Biologie, die spiele ja vielleicht auch irgendeine Rolle.

 

Nach Belegen, dafür gefragt, dass Frauen lieber mit Menschen zusammenarbeiten als Männer, antwortet Pinker: „70% aller Promotionsarbeiten im Fach Psychologie werden in den USA von Frauen verfasst.“  Einer derart zwingenden Beobachtung kann sich wohl niemand entziehen. Denn klar: Nichts ist so gesellig, nichts entspricht so sehr dem, was man unter „was mit Menschen“ versteht, wie eine Doktorarbeit zu verfassen. 

 

Geschrieben wurde der putzige Artikel, der versucht, alles richtig zu machen und den Anschein erweckt, tatsächlich etwas zu bieten, was nicht alle Jahre wieder daher gelallt wird, von vier Menschen, bei denen ich mir nicht vorstellen mag, dass sie älter als 18 Jahre sind, klingen sie doch wie von einer neuen Kinderbuch-Gang: Katja Thimm, Samiha Shafy, Nils Klawitter und Beate Lakotta.

 

In der gleichen Spiegel-Ausgabe kommt übrigens auch noch Großmeister Paulo Coelho zu Wort: „Wir stehen an einem Scheideweg. Die Frage ist, ob wir den Weg des Weiblichen, der Spiritualität gehen wollen.“ Der bauernschlaue Coelho hat natürlich erkannt, was auch in dem lustigen Pinker-Artikel zu lesen steht: „Tatsächlich bestimmen typisch weibliche Themen wie Moral, soziale Verantwortung, Gerechtigkeit und Einfühlungsvermögen derzeit auffallend die Management-Literatur.“

 

Bevor ich mich gleich wegen der Aussage „typisch weibliches Thema Moral“ übergebe, muss ich mich aber doch noch kurz freuen: Eine Welt, in der erwachsene Menschen Forschungsgelder darauf verwenden, grünen Meerkatzen Spielzeug vorzulegen, um nach geschlechtlichen Präferenzen zu fahnden, mag zwar durch und durch bekloppt sein, aber sie ist auch sehr, sehr lustig. Und: wo so was bezahlt werden kann, das ist bestimmt genug Geld für alle da!

 

P.S.: Nicht, dass ich jedes konstruktivistische Geblödel, dass unter "Gender-Studies" firmiert, ernst nehme, aber was da aus der "biologischen" Ecke kommt, ist, wenn es zu Soziologie aufgebläht wird, nicht nur in der Regel denkerischer Unfug, es atmet auch den Geist des Reaktionären, der echte oder angebliche biologische Unterschiede heranzieht, um menschengemachte Ungerechtigkeiten zu bagatellisieren.

0 Kommentare

Evil dead -- damals und heute

Magister Nachit faltet zufrieden die Hände auf seinem Wanst. Die Kinoleinwand ist schwarz geworden, gleich beginnt der Film. Ich sitze gutgelaunt neben dem prächtigen Frankomarokkaner, einem ausgewiesenen Connaisseur des Obskuren, Schattenhaften, Grotesken und beizeiten schlichtweg Widerwärtigen. Wer sonst hätte mich an einem Fronleichnamsabend in das Kölner Cinedom begleitet, um den Film „Evil Dead“ zu sehen, einen Streifen, dessen amerikanisches Verleihplakat mit folgendem dämlichen Slogan wirbt: The most terrifying film you will ever experience.

 

Obwohl in Köln seit vielen Tagen zum ersten Mal die Sonne ballert, ist der Kinosaal rappelvoll. Außer Magister Nachit und mir gibt es nur sehr wenige Zausel mittleren Alters, darunter eine Frau, die wie eine resolute Finanzbeamtin aussieht, für die Gary Larson eine Brille entworfen hat. Und direkt hinter uns sitzt ein Mittvierziger-Paar, bei dem der Mann die verkrampft-unterwürfige Schein-Normalität des Ex-Junkies ausstrahlt. Das restliche Publikum besteht aus Menschen in der Blüte ihrer Jugend. Allein in der Reihe vor mir zähle ich sieben Baseballkappen und acht XXL-Eimer mit Popcorn.

 

Gleich neben mir hat sich eine vierköpfige Clique niedergelassen, bei der es sich vielleicht um Berufsschüler, vielleicht auch um Studenten handelt. Da scheinen mir heutzutage die Übergänge fließender als zu meinen Unitagen. Das Mädchen, das gleich neben mir sitzt, sagt: „Ich habe keinen Bock auf den verfickten Kack, ich scheiß mir jetzt schon in die Hose.“ Vermutlich doch eine Studentin, schließlich hat sie zwei Sätze gesprochen, ohne „Alter“ zu sagen. Ich bescheide dem guten Kind, dass es sich gerne einscheißen dürfe, aber auf unkontrolliertes Kreischen, namentlich in mein Ohr, bitte verzichten möge. Die junge Dame sieht mich interessiert an. Auch der junge Mann neben ihr wirkt überdurchschnittlich aufmerksam. Nach einer kurzen Pause füge ich hinzu: „Genaugenommen bin ich auch gegen das Einscheißen.“ „Geht klar!“, sagt das Mädchen souverän in das Gelächter ihrer Clique. Und schon geht es los.

 

Bei „Evil Dead“ handelt es sich um das Remake des Films „The Evil Dead“ aus dem Jahre 1981, der in Deutschland als „Tanz der Teufel“ beschlagnahmt wurde und bis heute indiziert ist. Also ein Film mit gutem Ruf unter Horrorfilmfreunden. Ich hatte das Glück im Alter von 13 Jahren über einen älteren Freund an eine ungeschnittene VHS-Version des Werkes zu gelangen. Der billig gedrehte Film hatte bei mir den Effekt eines unrund verlaufenden LSD-Trips mit Langzeitwirkung, weswegen ich „Tanz der Teufel“ in kurzer Folge noch zwei weitere Male ansah, nicht ohne zwei Gleichaltrige mit reinzuziehen.

 

Die Handlung ist schnell erzählt: Fünf junge Menschen, zwei Männer und drei Frauen, suchen eine Hütte im Wald auf und beschwören zufällig eine dämonische Macht, die nacheinander in die Mädels rauscht und in diesen Wirtskörpern nur zur Ruhe gebracht werden kann, wenn diese vollständig zerstückelt werden. Gut, das klingt jetzt weder nach komplexer Dramaturgie, noch nach einem Kultklassiker des emanzipatorischen Frauenkinos, aber das Inferno, das da 1981 von ein paar Filmstudenten für 90.000 Dollar entfesselt wurde – mit toller, eigenwilliger Kameraführung, sehr eigenständiger und effektiver Tonspur sowie einem soliden „over-the-top“-Ansatz in Sachen Terror und Gewalt – ja, diese grausam-komische Dämonen-Entfesselung gehört bis heute zu den Perlen rustikaler Unterhaltung und kann auch in unseren Tagen Pubertierenden auf der Suche nach einem Initiationsritus uneingeschränkt empfohlen werden. Klar, man kann als junger Mensch auch coole Skitouren, einen aufregenden Surfurlaub, Petting oder Interrail machen, aber es ist nun einmal nicht jedem alles im gleichen Maße möglich.

 

Ich möchte das anhand meiner eigenen Person ein wenig verdichtet illustrieren: In der Mittelstufe fand ich mich eines Tages auf dem Schulhof zwei Gruppen Jugendlicher gegenüber. Die eine Gruppe bestand aus gut gewachsenen, cool gekleideten Teenagern, die gut in der Schule waren, ohne als Streber zu gelten, und die in ihrer Freizeit viel Sport machten, geile Musik auflegten und mit anderen netten Teenagern ausgingen und coole Projekte und interessante Reisen für die Zeit nach dem Abi planten. Die Jugendlichen dieser Gruppe tranken morgens frischgepresste Säfte in lichtdurchfluteten Küchen, während ihre schönen Eltern in weißen Bademänteln dasaßen und ihnen sanftmütig lächelnd das dichte Haar zerwuschelten. Mein Blick wanderte zur anderen Gruppe: Da standen anorektische Scheidungskinder, aufgeschwemmte Trauerklöße, blasse Bettnässer, stotternde Hampelmänner in schwarzen Rüschenhemden, neurotische Weltverbesserer in Hosen aus Sackleinen, depressive Drogen-Diven und giggelnde Pickel-Geeks. Ich sah, dass mir aus der ersten Gruppe jemand zuwinkte: „He, komm ruhig zu uns, Anselm. Passt schon.“ Das hatte nett, aber nicht zwingend geklungen. Die Frischsaft-Teenager kamen ganz offensichtlich auch bestens ohne mich klar. In der zweiten Gruppe sagte niemand etwas. Es lud mich auch keiner ein, aber die verstohlenen Blicke sprachen Bände: Man wollte mich. Man wollte mich unbedingt. Ich hatte damals zwei Leitsätze: 1. Ein Mann muss da hingehen, wo er gebraucht wird, und 2. Better to rule in hell than to serve in heaven.

 

Eine folgenschwere Entscheidung, wie ich 25 Jahre später, nicht ohne einen Anflug von Melancholie bemerken möchte. Die Zugehörigkeit zur beta-Gruppe brachte mich zwangsläufig in die Gesellschaft von Rollenspielern, Protoalkoholikern, Borderlinerinnen, Missbrauchsopfern, Freizeitsatanisten, Computersüchtigen und Horrornerds. Man kann behaupten, dass ich jahrelang hauptberuflich uncoole Hobbies gesammelt und ausgeübt habe, und für keines bin ich so sehr angefeindet worden wie für mein Faible für missgelaunt-metzgernde Misanthropen-Machwerke. So stellte mich beispielsweise ein Religionslehrer vor der versammelten Klasse als verkommenes Subjekt dar, nur weil ich behauptete, die vom ihm frech aus meinem Ranzen gefischte VHS-Kassette mit der Aufschrift „Tanz der Teufel“ enthalte die Fortsetzung von „Dirty Dancing“. Am Ende hackte zum Glück eine Krähe der anderen kein Auge aus. Pater Wenzel übersah, dass ich im Klassenzimmer mit solchen Filmaufnahmen Handel trieb. Ich hing im Gegenzug nicht an die große Glocke, dass mein älterer Bruder ihn im Südfrankreichurlaub einmal mit Frau Engel, der guten Fee des Internats, in pärchenhafter Pose vorgefunden hatte.

 

Schwerer wog, was der Horrorfilmfimmel kurz darauf mit sich brachte: Die Eltern eines Freundes verboten ihm nach zwei Ermahnungen den Umgang mit mir. Später konnte ich das ein bisschen verstehen. Ich erfuhr, dass sie ihren Sohn manchmal mit einer Reitgerte schlugen. Wenn er auch noch mit mir Horrorfilme gesehen hätte, wäre das sicher zu viel Grausamkeit für einen Heranwachsenden gewesen. Anderes Ungedeih brachte mir meine Passion noch in meiner Studienzeit: Eine Kunststudentin der anthroposophischen Alanusschule brach eine Affäre mit mir ab, als sie meine kleine, aber monothematische Filmsammlung entdeckte. Mir waren damals allerdings Frauen mit Freude am Horror ohnehin lieber.

 

Ob hier und heute im Kölner Cinedom die junge Dame im Sitz neben mir allerdings eine solche Horrorfrau ist oder wird, bleibt abzuwarten. Offenbar ist sie nicht ganz freiwillig zum Teufelstanz erschienen, sondern wurde von ihrem Freund oder gleich der ganzen Clique genötigt, sich das finstere Treiben anzusehen. Und es dauert auch nur 35 Sekunden, da brennt auf der Leinwand bereits eine blondgelockte Frau, die gleichzeitig ihrem Vater dämonische Schweinereien ins Gesicht grunzt. Dieser Vater hat gerade eben mit den gequälten Worten „Ich liebe dich“ den Scheiterhaufen in Brand gesteckt. Man muss da jetzt die einzelnen Zusammenhänge nicht verstehen. Die Welt der Dämonen trotzt dem apollinischen Logos mit chthonischem Chaos. Auf jeden Fall ist die Szene effektiv inszeniert.

 

Ich linse vorsichtig zu dem Mädchen im Nachbarsitz. Sie sitzt mit verschränkten Armen da und schaut mit leicht gesenktem Kopf auf die Leinwand. Sie scheint alles im Griff zu haben. Anders sieht das beim vermeintlichen Ex-Junkie hinter mir aus. „Boh, hohoho!“ lacht er laut in den Saal. Er wird dieses Lachen ab jetzt noch 76 Mal erklingen lassen, manchmal garniert mit einem: „Ey, haste gesehen? Krass.“ Die Frau neben ihm sagt gar nichts. Vielleicht ist sie nicht seine Freundin, sondern eine Sozialarbeiterin im Dienst.

 

Redselig sind hingegen die Kappenträger in der ersten Reihe. Vor allem ein gutgelaunter Speckkopf lässt sich keine Pointe entgehen. „Achtung Sonnenbrand“, sagt er, als es gerade still genug im Kino ist, das Hexenmädchen aber noch brutzelt. Kein Spitzenwitz, aber dem Buben geht es anders als der Hexe: Er muss erst mal warm werden. Etwas später wird eine junge Frau im Wald bei der Hütte von tückischem Geäst festgehalten, derweil eine dämonische Erscheinung einen meterlangen Wurm auskotzt, der sich langsam den Weg in die Scheide des armen Mädchens bahnt. Das klingt jetzt etwas wirr und etwas eklig, ist aber geradlinig und steril inszeniert, die Szene im Original hatte da mehr Potenzial, eine Psychose auszulösen oder zumindest Alice Schwarzer in Talkshows zu treiben.

 

Als das windige Wurmwesen schließlich in seinem wimmernden Wirt verschwunden ist, wird es auf der Leinwand und im Publikum kurz still. Genau jetzt kann der Lümmel aus der ersten Bank vier Worte trocken platzieren: „Hä, in die Muschi?“ Solides Timing und zu recht ein Lacherfolg bei seinen Kumpels. Auch ich fühle mich heiter, ja beinahe gelöst, und sage, in seine Richtung gebeugt: „Das Ding ist da rein, wo du raus gekommen bist.“ Der Dickwanst dreht sich zu mir um und sagt mit nachdenklichem Blick: „Stimmt.“ Teufel, denke ich, diese Kids von heute sind wirklich abgebrüht.

 

So geht es nun von Szene zu Szene: Bei jeder Gräueltat lacht der Ex-Junkie ein kehliges Männerlachen oder sagt: „Ja, geil, und jetzt noch das Bolzenschussgerät.“ Der Kappenbengel begnügt sich mit trockenen Onelinern und das Mädchen neben mir sitzt mit verschränkten Armen da. In der Mitte des Films schlägt ein nerdiger Mann seiner besessenen Freundin mit einem Waschbecken Rücken und Kopf zu Klump. Das dauert ungefähr eine halbe Minute, ist klangtechnisch nachvollziehbar gestaltet und sorgt für einen überraschenden Effekt: Der Kehlenlacher hinter mir hält sich bedeckt und der Whopper sagt zur Abwechslung einmal nichts. Es scheint, als ob der Film die Grenze dessen überschritten hat, was der Kappenlümmel für witztauglich hält. Ich bewundere die Sensibilität des jungen Mannes in diesem scheinbar unsensiblen Kontext und stelle mir plötzlich seine Wimpern lang und zart vor.

 

Sicherheitshalber schaue ich noch einmal zu der jungen Frau neben mir. Sie hat noch immer die Arme vor der Brust verschränkt, schaut jetzt aber weniger ängstlich, sondern trotzig-schmollend. Vielleicht so, wie ich in einem Musical sitzen würde. Es gibt noch einigen Buhei auf der Leinwand, bei dem eine Kettensäge, ein Teppichmesser und eine Nagelschusspistole die Handlung vorantreiben. Besagte Nagelschusspistole wird vom Nerd benutzt, um einem anderen Dämon in Frauengestalt heimzuleuchten. Die Nägel, die den Körper der unheiligen Sebastiana durchbohren, machen der entfesselten Furie jedoch nicht viel aus. Wer kennt das nicht: Ein Pärchenstreit verleiht den Beteiligten oft ungeahnte Kräfte und Schmerztoleranz. Wie auch immer: Als die Nägel alle sind und sich die Dämonin in halbseidener Absicht über den armen Brillenträger zu beugen droht, ruft der Junge neben dem Kappenwhopper: „Ey, wirf du Sau!“ Und tatsächlich: Der Nerd wirft das Nagelschussgerät und kann sich gerade noch wegrollen.

 

Ich finde, Filme wie Evil Dead haben pädagogisches Potenzial. Jugendliche, die sonst vielleicht nicht viel zu melden haben, können sich einmal als wirkmächtig erleben, weil hier eine Leinwandfigur empathisch gerufene Ratschläge gleich umsetzt. Zugegeben, für das Gefühl der Wirkmächtigkeit sind Computerspiele noch viel besser geeignet. Aber noch sind Herr Nachit und ich ja im Kino. The Witcher 2 – Assassins of Kings wollen wir erst später spielen. Nach 91 Minuten ist der derbe, aber nicht originell gefilmte Spuk vorbei. Die psychedelische Wirkung des Originals kann die wesentlich teurere Produktion bestenfalls in einigen wenigen Momenten erreichen. Die meisten eingesetzten Mittel -- vor allem die Tonspur -- sind ermüdend konventionell. Man kennt diese Art von Geisterbahngewummer längst in- und auswendig. Andererseits erweitert der Film die ursprüngliche Story durch eine Drogenrahmengeschichte gar nicht mal blöd, und der Wille zu teils wirklich grimmigen Darstellungen ist auch anerkennenswert.

 

Kaum, dass der Abspann läuft, dreht sich die junge Dame zu mir und fragt: „Und, war das jetzt ein guter Horrorfilm?“ Ich überlege. Jetzt nichts Falsches sagen, vielleicht ist das gute Kind ja für den Horror noch nicht verloren. „Mittel“, sage ich weise. „Also ich fand ihn voll Scheiße“, sagt die junge Dame, ohne ihren Freund anzusehen. „Ja“, gebe ich zu. „Wenn man diese Art von Filmen nicht mag, dann war das eine ganz schöne Scheiße.“ Magister Nachit indes faltet schon wieder sehr vergnügt die Hände über seinem Bauch.

0 Kommentare

Balzac zur Finanzwelt

Gerade eben habe ich im ersten Teil von "Glanz und Elend der Kurtisanen" (Honoré de Balzac um 1840) folgende interessante Passage gefunden:

 

"Obwohl die Finanzpolitik des berühmten [Bankier-] Hauses Nucingen anderswo erläutert ist, mag es doch auch hier nicht unnötig sein, zu bemerken, dass so beträchtliche Vermögen in all den kommerziellen, politischen und industriellen Revolutionen unseres Zeitalters nicht erworben, gesichert, vergrößert und bewahrt werden können, ohne dass anderswo riesenhafte Kapitalverluste vor sich gehen oder, wenn man das so sagen will, den Vermögen vieler Einzelner Abgaben auferlegt werden. Es kommen sehr wenig neue Werte zum Gesamtvermögen der Erde dazu: Jedes neuerworbene Vermögen bringt neue Ungleichheit in der allgemeinen Besitzverteilung mit sich. Was der Staat einhebt, gibt er zurück, aber was ein Haus Nucingen an sich zieht, das behält es. An diese großen Verbrechen reichen die Gesetze aus dem Grunde nicht heran, aus dem Friedrich der Große ein Jaques Collin [Meisterverbrecherfigur bei Balzac] oder ein Mandrin [ein französischer Räuberhauptmann und Volksheld] geworden wäre, wenn er statt in Schlachten um Länder zu kämpfen, ein Schmuggler gewesen oder in Wertpapieren spekuliert hätte. Die europäischen Staaten zu zwingen, dass sie Anleihen zu zehn oder zwanzig Prozent aufnehmen, diese zehn oder zwanzig Prozent durch die Gelder der Bevölkerung hereinzubringen, sich der Rohstoffe zu bemächtigen und dadurch im Großen Erpressungen an den Industrien auszuüben, dem Gründer eines Geschäfts einen Strick hinzuwerfen und ihn gerade so lange über Wasser zu halten, bis man sein schon ersticktes Unternehmen an sich gerissen hat, kurz, alle diese gewonnen Geldschlachten machen zusammen die hohe Politik des Geldes aus. [...] Bei uns stammt das Übel von der politischen Gesetzgebung her: Die Verfassung hat die Herrschaft des Geldes proklamiert, und der Erfolg ist der höchste Maßstab dieses entgötterten Zeitalters geworden. Die Korruption der höheren Stände ist jedoch, trotz aller blendenden Gewinne und ihrer Scheinrechtfertigungen, noch unendlich widerwärtiger als die erbärmliche und gleichsam persönliche Korruption der niederen Klassen, von der wir ein paar Einzelheiten als komisch und zugleich furchtbar in diese Erzählung aufnehmen. Die Ministerien, die vor jedem wirklichen Gedanken erschrecken, haben die Komik von heute von der Bühne verbannt. Die bürgerliche Gesellschaft, die heute weit weniger liberal ist als selbst Ludwig XIV., zittert davor, ihre Hochzeit des Figaro zu erleben; sie verbietet, den politischen "Tartüff" aufzuführen und würde sicherlich auch nicht zulassen, dass man "Turcaret" spielte, denn die Turcarets sind ja jetzt am Ruder. Von nun an werden die Komödien zu Erzählungen, und das Buch, das weniger rasch, aber sicherer wirkt, ist die Waffe des Dichters geworden."  

 

 

0 Kommentare

Fünf Fragen zur Finanzkrise

In den letzten drei Monaten habe ich versucht, mir eine Meinung über die Finanzkrise zu bilden, die für manche vor allem eine  Euro-Krise, für andere vor allem eine Bankenkrise, wieder für andere vorrangig eine (Staats-)Schuldenkrise und in mancher Lesart auch alles zusammen bzw. eine Kapitalismuskrise ist. Die Entstehung der Krise habe ich, so will es mir scheinen, in groben Zügen verstanden, nicht aber, was die Regierung zu ihrer Lösung (sowohl akut als auch nachhaltig) plant.

 

Am Freitag den 29.6., einen Tag nach der Niederlage der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen die italienische, wurde im Bundestag namentlich über die Ratifizierung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus' (ESM) und eines europäischen Fiskalpaktes abgestimmt. 493 Pro-Stimmen standen 106 Contra-Stimmen gegenüber. Außerdem gab es 5 Enthaltungen. Sogenannte Top-Ökonomen liefern sich hitzige Debatten in den großen Tageszeitungen. Manche halten die Verträge für "alternativlos", um größeres Unheil zu verhindern. Andere betrachten sie als "demokratisch nicht legitimiert" und als Grundsteine für eine drastische Verschlimmerung der Situation. Nimmt man die Online-Kommentarbereiche der Süddeutschen, der FAZ, des Spiegels, des Tagesspiegels, des Handelsblattes und der ZEIT zum Maßstab, ist die überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger gegen die Ratifizierung der beiden Verträge und befürchtet große Nachteile für die Mehrheit der (deutschen) Bevölkerung.

 

Ich würde gerne wissen, ob ich Proteste gegen ESM und Fiskalpakt unterstützen sollte, oder nicht. Ich habe fünf Fragen formuliert, die mir als Kompass im Informationsdschungel dienen sollen:

 

1. Wer hat Schulden?

 

2. Bei wem?

 

3. Warum?

 

4. Was soll gemäß Fiskalpakt und ESM mit diesen Schulden geschehen?

 

5. Warum?

 

Ich würde mich sehr über Unterstützung bei der Beantwortung dieser Fragen freuen. Natürlich sind zu einer Frage oft mehrere Antworten möglich und nötig, je nachdem welches Land oder Phänomen betrachtet wird. Ebenfalls dankbar bin ich für Hinweise zur Verbesserung der Fragen und für neue Fragen. Wer meine Mailadresse hat, kann mir gerne an diese mailen. Anderen steht das Kontaktformular dieser Homepage oder der Kommentarbereich dieses Blogs zur Verfügung. Im besten Fall kann ich in ein paar Wochen ein paar plausible Beiträge zu einer Übersicht zusammenstellen.

 

Herzliche Grüße,

 

Anselm Neft 

 

 

36 Kommentare

Integrationspreis für Rapper Bushido

Eine Gardinenpredigt, gehalten am 12.11.2011 im Euro Theater Central, Bonn.

 

Diesen Donnerstag fand in Wiesbaden die große Bambi-Preisverleihung statt. Einer der 18 Preisträger war Rapper Bushido, bürgerlich Anis Fenchel Youssef Monchichi. Er erhielt den Integrations-Bambi, was schon im Vorfeld für Unmut sorgte. „So geht es nicht“, sagten Menschen von Frauenrechtsorganisationen, den Grünen oder Homosexuellen-Vereinen wie dem „Warmen Wiesbaden“. Im Internet wurde zu Protesten aufgerufen. Auch der hessische SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel zeigte im Gespräch mit dem Hessischen Rundfunk klare Kante: „Bei mir wird sich keine Hand rühren.“ Was immer er damit sagen wollte.

 

Bei der Preisverleihung selbst geht es dann aber friedlich zu. Es wird brav geklatscht, als der Quoten-Kriminelle auf die Bühne darf, um seinen Bimbo, entschuldigung, Bambi entgegen zu nehmen. Es wird aber auch brav geklatscht, als ein anderer Preisträger, Peter Plate von Rosenstolz, Kritik äußert: „Nichts gegen das Recht auf eine zweite Chance, aber jemanden, der frauenfeindliche, schwulenfeindliche und letzten Endes menschen- verachtende Texte gesungen hat, so einen Musiker auszuzeichnen, das finde ich nicht korrekt.“

 

Der Burda-Verlag, in dessen Namen der Preis ausgelobt wird, veröffentlichte jedoch bereits vor der Verleihung ein Statement, um die Entscheidung trotz fragwürdiger Songpassagen im Oeuvre des – ich zitiere – „polarisiernden Künstlers“ zu begründen: „Musik ist eine Kunstform, der bewusste Tabubruch ein Stilmittel des Raps“.

 

Es ist also soweit: Nachdem uns Bushido schon viele Jahre aus den Kopfhörern missmutiger Buben mit monotonen Geräuschkulissen belästigt hat, nachdem er ein rührseliges Ghetto-Kid-Drama in die Kinos gebracht und sich kurz darauf mit Plagiatsvorwürfen als Trendsetter empfohlen hat, steuert er nun mit dem Bambi auch noch etwas zur nervigsten Debatte des Jahrzehnts bei: Das Gelaber um die politische Korrektheit. „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen“, rufen die unerschrockenen Kämpfer für Denk- und Redefreiheit, wenn sie jemand darauf hinweist, dass das, was sie da gerade sagen, Menschen wegen ihres Geschlechts oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit herabsetzt. Und tatsächlich, wo kämen wir hin, wenn man sich nicht mehr gegenüber anderen erhaben fühlen könnte. „Die Türken sind faul und nehmen uns die Arbeit weg“, mutmaßt in ganz eigener Logik der von der Globalisierung ins Knie gefickte Arbeiter. „Die Deutschen sind Scheiß-Kartoffeln“, äußert der türkische Gemüsehändler, der von der gleichen Globalisierung ins gleiche Knie gefickt wird. „Männer sind potentielle Vergewaltiger“, fühlt sich die Primitiv-Feministin plötzlich irgendwie besser, „Frauen haben einen niedrigeren IQ, aber einen höheren EQ als Männer“, kontert die seriöse Focus-Spiegel-Bunte-Forschung, während der von seiner Mutter aufgezogene Bushido schon munter rappt: „Ihr Tunten werdet vergast“. Und dann kommt das gebildete Bürgerkind und sagt zu all diesen Menschen: „Das, was ihr da äußert, sind fragwürdige chauvinistische Stereotypen, die den Geist des Reaktionären und damit des Kryptofaschistischen in sich tragen, in welchem Menschen nicht als gleichwertige Individuen, sondern in archaischer Weise als in Raster einzuordnende Mitglieder eines Stammes, einer Kaste oder eines Geschlechts betrachtet werden, wobei die kapitalistische Ausbeutung solcher Hierachien bedarf, um ihre Aneignung von minder eingestufter und daher schlecht entlohnter Arbeitskraft ideologisch zu verbrämen.“ Oder kurz gefasst: „Ich bin klüger als ihr, also was Besseres. Bätsch!“ Jeder ist in diesem unkorrekten oder korrekten Zirkus also besser als irgendjemand anders, auf den er oder sie herab schauen kann.

 

Was machen wir nun aber mit Bushido und seinem Bambi? In meinem Regal befinden sich unter anderem CDs von Slayer, Cannibal Corpse, Autopsy und Clit-Eater, deren Songtexte rund um Frauenfolter, Babyverstümmelung, Christenverhöhnung und Konzentrationslager Bushidos Hörprodukte in etwa so brutal erscheinen lassen wie eine Benjamin Blümchen Kassette. Wenn mir in jungen Jahren jemand gesagt hat, das, was ich da höre, sei stumpfer, gewalttriefender, menschenverachtender Rotz, dann habe ich geantwortet: Ja. Und wenn jemand meinte, das müsste verboten werden, dann meinte ich: Von mir aus. Und wenn etwas tatsächlich indiziert gewesen ist, wie in meiner Jugend z.B. der Film „Tanz der Teufel“, dann habe ich erst recht versucht, an den Krempel heran zu kommen. Mir war völlig klar, dass Frauenfoltern und Babyverstümmeln irgendwie nicht so richtig okay ist. Und ich war mir sicher: Die Burschen von Autopsy oder die Macher von „Tanz der Teufel“ wissen das auch. Geistige Gesundheit heißt für mich, den verschiedenen Facetten der eigenen Person gerecht zu werden, ohne gegen sich oder andere ungerecht zu werden.

Irgendwas ist bei Bushido aber anders. Kreisen wir das Phänomen einmal intuitiv ein: Hätte ich Kinder und sie würden mit Slayer-T-Shirts durch die Gegend hopsen, würde ich zwar nicht sagen: Cool, ich komm mit aufs nächste Konzert. Nein, ich würde meine Rolle als Erziehungsberechtigter spielen und sagen: Hu, das sind aber fiese Bilder und grausame Texte. Eijeijei, ein Song über Auschwitz ist keine gelungene Partymusik, ihr verrohten Früchte meiner Lenden. Aber insgeheim würde ich denken: Das wird sich schon ausgehen. Wären meine fiktiven Kinder hingegen Bushido-Fans, zerbräche ich mir den Kopf. Nicht, weil ich selbst diese Art von Rap nicht höre und auch nicht, weil Ärsche, Schwänze, Fotzen, Blut und Keilerei in holprigen Metren und schiefen Reimen zur Sprache gebracht werden. Es sind zwei andere Dinge, die mir bei Bushido auf den Sack gehen: Zum einen versucht er, seine brutalisierte Attitüde nicht als alltagsferne Parallelwelt, sondern als echten Lebensstil zu verkaufen und sich selbst als Vorbild, vor dem man Respekt haben soll. Hier müsste doch schon was auffallen: Sich ständig über andere respektlos äußern, dann aber Respekt einfordern, ist die Haltung von Größenwahnsinnigen, mit denen man nichts zu tun haben will. Slayer oder Marilyn Manson laufen nicht durch die Gegend und erzählen in Interviews, das andere Metal-Musiker samt und sonders Schwuchteln, Fotzen und Nutten sind, die mal ihre Eier lecken können. Sie wissen, dass man sich bei allem „bad boy“-Image nicht vollkommen zum Horst machen muss und seinen Minderwertigkeitskomplexen jenseits der Bühne eben nicht die Zügel schießen lässt. 

Ja, die Masche, permanent anderen die Männlichkeit abzusprechen, um selbst als männlicher dazustehen, gilt selbst in der wenig coolen Metal-Szene mit ihren durchschaubaren Männlichkeits-Symbolen, den bösen Gesichtern und den prätentiösen Posen als uncool. Bis zu Bushido hat sich das jedoch nicht herum gesprochen. Also erzählt er größtenteils nichts anderes, als dass er super ist, ganz einfach deshalb, weil andere Scheiße sind.

Die zweite Sache, die mich an Bushido ankotzt, ist mit dieser ersten verknüpft: Die zu dieser Selbstbezogenheit gehörende Wehleidigkeit. Das kann man jungen Leuten, die eh schnell einen Hang zu ichbezogener Heulerei entwickeln, doch nicht zumuten. Viele Eltern wissen ja gar nicht, was dieser rappende Jammerlappen alles von sich gibt. Im Folgenden ein paar Songauszüge, die ich keinesfalls lange suchen musste. Los geht es mit einer Strophe aus

„Schmetterling“:

Du bist mein Schatz - Ich lieb dich wie mein eigenes Leben
Ich vergesse die ganze Welt
Und seh nur uns zwei im Regen
Uns zwei wie wir nur noch uns zwei haben
Schenk dir 1000 weiße Tauben, wenn wir uns heiraten [Alternativvorschlag: 1000 weiße Tauben und 100 schwarze Raben]
Du hast nicht gewusst, dass ich ein Rapper bin
Doch ich wusste damals schon, du bist mein Schmetterling“

 

Heiraten will er. Und 1000 weiße Tauben verschenken, die dann die ganze Wohnung voll kacken. Dabei war seine Existenz am Rande der Gesellschaft, bei den Aussätzigen und hart Gezeichneten, der Schmetterlings-Frau erst verborgen: Sie wusste nicht, dass er...oh Gott...ein Rapper ist.

Und weiter:
“Wie eine Träne im Meer
Komm ich mir vor, wenn ich dran denke
Was wär, wenn dein Segen nicht wär“

Wie eine Träne im Meer? Wohl eher wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Nein, kein Zweifel, da haben die Sittenwächter recht: So etwas gehört in kein Kinderzimmer! Da hilft es auch nicht, dass der Deutsch-Tunesier mit dem Rap-Tourette in „Gangbang“ behauptet:

 

„Herzlich willkommen auf dem Asphalt, er singt dir ein Lied
Guck zum Horizont, was willst du Kind hier
Zwischen Männern die mit Hero und Koks Ticken
Wir sind die drei, die euch Zecken in den Zoo schicken
Die euch so ficken, bis ihr euer Blut kotzt
Ich bin Berliner, der nicht redet, sondern zuboxt
Deine ganze Familie sind Taschenspieler
Ich werd zu 90% morgen Waffendealer
Ich werd's so machen wie der Cowboy im Western
Ich trink nur noch Whisky und fick deine Schwestern“

 

Ja, was denn jetzt? Labern oder boxen? Waffendealer oder Cowboy? Vielleicht zu 90% Waffendealer und zu 10% Cowboy, wobei er dank des Nur-noch-Whiskey-Trinkens gar nicht mehr zu deinen Schwestern kommt, die ja jeder klassische Cowboy im Minutentakt flachlegt.

 

Oder nehmen wir einen Auszug aus dem grandios betitelten „Du bist ein Mensch“, einem Song, den Bushido mit Xavier Naidoo zusammen gesungen hat. Spätestens hier sollten bei Erziehungsberechtigten alle Alarmglocken läuten:

 

Warum führen wir Krieg, warum töten wir hier?
Manchmal wird mir klar, ich hab Böses in mir.
Viel böses passiert, es war schön und gut,
doch warum wird aus Öl nur Blut?
Warum sind wir stur, gehn über Leichen?
Kinder werden geboren, hungern, verzweifeln.
Die Reichen werden reicher und Arme bleiben arm,
ich stelle mir die Frage „was haben sie getan...“ [ja nix, deshalb sind sie ja arm, ‚tschuldigung, kleiner Scherz, der sich gerade anbot]

Warum hat man Angst, Angst vor der Zukunft?
Warum schlägt die Hilflosigkeit nur in Wut um?
Das sind wir Menschen voller Kummer und Sorgen,
doch Gott schenkt uns ein Morgen“

 

So was will ich noch nicht einmal mit Wandergitarre im Zeltlager der christlichen Jugend Sackeifel-Nord hören und schon gar nicht von einem Cowboy-Rapper. Aber es kommt noch schlimmer: Bei „Sieh in meine Augen“ bricht die ganze Heulerei eines gebeutelten Egos aus dem depperten Rap-Egomanen heraus:

 

Okay, man sagt die Augen sind der Spiegel meiner Seele [nicht nur deiner, du Solipsist]
Und deswegen ist es dunkel an dem Ort, an dem ich lebe [die Kausalität wirkt zwar nicht zwingend, aber geschenkt].
In dem kleinen Platz hier drinnen ist es Herbst [das glaube ich sofort, wenn er damit sein manisch-depressives Hirnkasterl meint],
und an die Wand schreibe ich mit Blut einen Vers:
Flieg, wenn du fliegen kannst, lieb, wenn du lieben kannst,
weil du nie kriegst, was du kriegen kannst“

 

Es ist bekannt, dass Bushido Ghostwriter hat, aber wer zum Teufel liefert dem armen Mann gegen gutes Geld eine solche Ware? Das ist doch in fünf Minuten beim morgendlichen Bierschiss entstanden.

 

Und weiter:

„Ich hab Blasen an den Füßen, weil ich barfuss geh'.
Wenn ich laufe, weine ich Salz, denn dieser Pfad tut weh.

Und nur, weil ich höflich bin, sage ich weiter guten Tag.

Ich brauche ein Pflaster für die Seele, weil ich nicht verbluten mag.“

 

Okay, jetzt reicht es. Allein das finale Wörtchen „mag“, dass nach Prenzlauerberg-Mädchen mit Traumfänger und "irgendwas mit Kunst oder Menschen" [und am Ende doch PR] klingt, disqualifiziert diesen Rap vollständig. Ich würde meinen Kindern klipp und klar verbieten, diesen Flachwichser in meinen vier Wänden Salz weinen zu lassen. Bushido, herhören, wir alle weinen Salz, nicht nur du. Kapiert? Und wenn dich die Blasen stören, dann zieh dir halt was an deine verweichlichten Mauken, herrgottsakrament.

 

Und kurz danach rappt der Bambi-Mann dann wieder so was:

 

„Neben mir sieht alles whak aus, weil keiner auf den Dreck bounct
Born to Kill, du machst alles chill,
wenn ich rappe, weiß ich ganz genau, deine Stadt steht still.
Ich bin elitär und auf keinen Fall dein Kumpel.
Berlin wird wieder hart, denn wir verkloppen jede Schwuchtel.“

 

Was soll man dazu noch sagen? Von Emo-Berlin zu Aggro-Berlin und im Schweinsgallop auf zur nächsten Peinlichkeit einer Rap-Vortäuschung:

 

"Zeiten ändern dich":

„Um ohne Vater aufzuwachsen, musst du hart sein.
Er war ein Kämpfer, und zwar seit Tag eins.
Er wollt kein Mitleid, und auch kein Mitgefühl,
und jetzt schau ihm in die Augen, denn nur ein Blick genügt,
und du siehst Hass, Schmerz, und du siehst Leid pur,
und seine Jahre vergehen, wie auf ner' scheiß Uhr.“

 

Nein, nein, nein: Um ohne Vater aufzuwachsen, musst du nicht hart sein, du musst nur ohne Vater aufwachsen. Und dass du kein Mitleid und der Vollständigkeit halber auch kein Mitgefühlt willst, du Gefühlsterrorist, wage ich zu bezweifeln, wenn du den armen Songhörer in den Augen deines Protagonisten „Leid pur“ sehen lässt. Angus Young kämen bestimmt die Tränen. Vielleicht würde er zusammen mit Lemmy und dir ein Benefiz-Konzert für alle armen Rapper machen, die Blasen an den Füßen haben, weil sie barfuß gehen. Vielleicht würden sie aber auch mit Alice Cooper sagen: „No doubt, you are stressing out, that ain't what rock `n´ roll’s about” und vermaledeite Freierscheiße – sie hätten Recht. Aber diese Art von Rap ist eben nicht Rock `n´ Roll, diese Art von Rap ist Schlager für Menschen, die zu feige sind, Schlager zu hören.

 

“Zeiten ändern dich” endet übrigens so:

 

„Mir tut so vieles heute unfassbar Leid.
Ich musste mich verändern, um was zu sein.
Ich wollte, das Mama stolz auf mich ist.
Heut ist sie stolz, Zeiten ändern dich!“

 

Da lässt der in Bonn gebürtige Ghetto-Homie endgültig die Katze aus dem Sack: Er wollte was sein, auf dem Affenfelsen nicht ganz unten sitzen. Wegen Mama. Und da wundert es auch nicht, wenn der ehemalige Koranschüler zwar ganz unberechenbar („äh Fotze, äh Adolf Hitler und so“) provozieren, aber auch von allen lieb gehabt werden will und bei der Bambi-Verleihung sagt: „Ich weiß nicht, ob ich den Preis verdient habe. Die Jury sagt, ich habe ihn verdient“. Ja verfickt noch mal, seit wann interessiert einen harten Rapper, was die Jury sagt, du obrigkeitsgläubiger, von Peter Maffay auf der Bühne gelobter, in Talkshows rumstotternder Verräter deiner Zunft?!

 

Oh man, wie mir diese Typen auf die Nüsse gehen. Sie behaupten, dass auszusprechen, was gewagt, provokant oder tabubrechend ist, und wenn sich dann jemand beschwert, heulen sie rum, man hätte sie missverstanden, oder man wolle ihnen das Reden verbieten, dabei wollten sie nur Respekt und keiner schwulen Fotze was zu leide tun. Überall diese Eiertänzer und Waschlappen. Das sind doch keine Vorbilder für unsere Jugend! Nehmen wir mal Thilo Sarrazin, der bis heute mit diesem beleidigten Gesichtsausdruck in jeder Talkshow, die ihn noch reinlässt, den Unverstandenen gibt, dessen Buch man nicht oder nicht richtig gelesen habe und der allen Ernstes behauptet, er sei bei einem medial ausgeschlachteten Bummel aus Kreuzberg heraus gemobbt worden, ja „verjagt wie ein geprügelter Hund.“ In der Zeitung „Die Welt“ schwadroniert er gar von einem wachsenden Menschenauflauf und peinlicherweise sieht man in dem Aspekte-Beitrag zu diesem Quatsch, dass es sich bei dem hetzenden Mob um genau zwei Menschen handelt, die als maulendes Hänflingspärchen den missverstandene Buch-Millionär auffordern, aus Kreuzberg zu verschwinden. Der hat kurz davor einen seiner total leicht misszuverstehenden Sätze zu Protokoll gegeben: „Das Beleidigtsein des Orientalen ist eine Kampfhaltung, mit der er unangenehme Diskussionen wegwischt.“ Dabei ist natürlich das Beleidigtsein des Okzidentalen auch nicht von Pappe: Nehmen wir zum Beispiele diese anonym schreibenden Gestalten im Blog „politically incorrect“, die gegen den Mainstream sein wollen, aber sofort aufschreien, wenn jemand nicht ihrer Meinung ist. Oder wo wir beim wackeren Kampf gegen den verblödeten Mainstream sind: Nehmen wir den Papst, der sich von der Diktatur des Relativismus bedroht fühlt, und damit die Demokratie meint, die für seine Kirche die Steuern eintreibt, in der aber seine Kirche mit ihrer Diktatur des Absoluten nicht mehr die erste Geige spielt. Und dann spricht sich der unbequeme Denker gegen die Verweltlichung der Kirche aus, muss aber doch im Bundestag als religiöses Oberhaupt salbadern und in einem intellektuellen Salto mortale erklären, dass wir der katholischen Kirche ja die Aufklärung und die Menschenrechte verdanken (auch wenn der Vatikanstaat neben Weißrussland der einzige Staat in Europa ist, der die Menschenrechtskonvention nicht unterzeichnet hat, vermutlich weil heutzutage „Menschenrechte“ auch „Frauenrechte“ beinhalten).

 

Ach, ich rede mich in Rage, und ich tu es gerne. Also: Ratzepappi, der Entweltlichte, muss natürlich ein Massen-Event im Olympiastadion veranstalten, seine ins Jenseits schielende Kirche zu großen Teilen von extrem irdischer Einkommenssteuer finanzieren lassen (und nicht allein von Kirchensteuer, aber weil das kaum einer weiß, zahlen auch die Ausgetretenen und Atheisten lustig für den Mummenschanz) und eine nicht besonders transzendental entrückte Vatikan-Bank unterhalten.

 

Aber Schluss mit dem alten Mann, der eh bald stirbt und dem nächsten Jubelgreis und Taschenspieler für die geistig und oft auch sonstig Armen Platz macht. Und ehrenhalber muss ich sagen, dass Herr Ratzinger tatsächlich noch ein geistreicher Zeitgenosse ist, verglichen mit seinen Claqueren wie diesen Matusseks, die ganz mutig das „katholische Abenteuer“ wagen, das natürlich rein zufällig ein trendiger Bestseller wird, wobei Matussek von katholischer Theologie noch weniger Ahnung hat, als der Durchschnitts-Frömmler, der das irgendwie voll schlau findet, was Benedikt der XVI. da wieder gesagt hat, und wenn man dann fragt, was genau, antwortet: „Ja, irgendwie so das Ganze.“

 

Was gehen mir diese Typen auf die Nüsse, die irgendwelche Menschengruppen abwerten und sich dann beschweren, wenn sich diese Gruppen oder irgendwelche anderen Leute beschweren. Diese Hobbydemokraten, die Redefreiheit für sich fordern und nicht wollen, das andere ihre Redefreiheit nutzen. Nehmen wir diese Lesebühnenautoren und Poetry Slammer, die ungefähr 15 Jahre nach Max Goldt und 30 Jahre nach Eckhard Henscheid und der damaligen Titanic-Crew erkannt haben, dass sogenannte Linksspießer und Gutmenschen auch eine ordentliche Zielscheibe für Spott abgeben, und dass beim Kabarett- und Lesebühnenpublikum ein süffisant ausgebreitetes 68er-bashing und eine gesalzene „konservative“ Provokation ein größeres Hallo erzeugt, als beispielsweise das Verlesen des kommunistischen Manifest. Und dann provozieren sie so ein bisschen und plötzlich ruft ein Linksspießer „Buh“ und sie können nächtelang nicht schlafen, weil sie so fertig gemacht wurden. „Mensch“, jaulen die verkannten Menschenfreunde in ihre Kissen: „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen“. Ja, klar, darf man. Und man wird da ja wohl auch noch buhen dürfen. Oder besteht da plötzlich die Gefahr einer Traumatisierung einer Seele, die ein Pflaster braucht, weil sie nicht verbluten mag? Diese verzogenen, jeder billigen Anerkennung hinterher hechelnden Anti-Mainstream-Mainstream-Gören wollen alles: Spiel, Spaß und Schokolade. Also die Aura der Rebellion, den Jubel aller und dann, wenn sie beim Stöckchenkampf aufs Maul kriegen, einen Kuss von Mama und am Ende doch wieder den größten Pudding. Diese Art von Rebellion hört natürlich immer sofort auf, wenn sich damit kein wirtschaftlicher Erfolg erzielen lässt. Diese Querdenker sind da so flexibel wie Mama Merkel, die uns alle lieb hat und mühelos den Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg verkündet, wenn sich plötzlich die Gesetze der Physik verändern, weil in Japan ein Kernkraftwerk havariert. Dieses ehemalige Kohlzäpfchen, das den Mindestlohn kategorisch ablehnt um 17 Monate später eine „Lohnuntergrenze“ einzufordern, die natürlich so beschissen ist, dass es sich gar nicht lohnt auf Hartz IV zu verzichten, wenn man mal ökonomisch denkt, was aber offenbar die Normalbevölkerung lassen soll, egal ob sie in Deutschland oder Griechenland die Lobby-Scheiße und Fähnchen-im-Wind-Marotten ihrer Volksvertreter ausbügelt.

 

So, ganz ruhig, jetzt muss ich noch irgendwie wieder auf Bushido zurückkommen, diesen dackelblickigen, warmduschenden Fußföhner und Abschiedswinker, der ganz zahm geworden ist, seit er mit Geld und Preisen und einem Job als Integrationsbeauftragter der Nation ruhig gestellt wurde. Meine Meinung zu dem Preis? Ich finde, dieser Mann hat einen lächerlichen, nach einer Kinderfilmfigur benannten Fernsehpreis und eine Laudatio von Peter Maffay redlich verdient. Es geschieht ihm Recht. Und gerne soll er demnächst mit Till Brönner und Sarah Conner „Deutschland sucht die Supernutte“ moderieren, denn da weiß er dann, wovon er spricht.

 

Amen.

1 Kommentare