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Christian Schüles "Ich bin weiß und männlich und kann nichts dafür!". Eine kommentierte Durchsicht.

 

Im Deutschlandfunk Kultur erschien am 18.08. 2020 unter der Rubrik "Politisches Feuilleton" ein Kommentar von Christian Schüle, den ich hier meinerseits kommentieren will. Anhand des Textes lässt sich meines Erachtens exemplarisch zeigen, wie Meinungsartikel arbeiten, wenn sie nicht auf Erkenntnisgewinn sondern Stimmungsmache abzielen. In den eckigen Klammern finden sich meine Kommentare zu den Textpassagen von Christian Schüles Kommentar, den ich hier komplett wiedergebe.

 

 

ICH BIN WEISS UND MÄNNLICH UND KANN NICHTS DAFÜR!

 

[Als Aussage ist die Überschrift sicher richtig. Allerdings wäre sie so sinnlos wie „Ich habe zwei Füße und kann nichts dafür“, wenn damit nicht behauptet werden sollte: Manche sehen das anders. Und zwar: Du bist weiß und männlich und KANNST etwas dafür. Gleich in der Überschrift werden zwei Phänomene verwechselt: 1. Niemand kann etwas dafür, mit welcher Hautfarbe und welchem Geschlecht er oder sie geboren wird. 2. Es liegt sehr wohl in der eigenen Verantwortung, die strukturellen Privilegien zu bedenken, die mit der eigenen Hautfarbe und dem eigenen Geschlecht einhergehen können. Identitätspolitische Argumentationen zielen auf Punkt 2 ab, Punkt 1 ist das, was man in der Rhetorik einen Strohmann nennt, also ein schlechtes bzw. rundherum falsches Argument, das ich dem Gegenüber unterstelle, um es dann widerlegen zu können. Allerdings kommt es gerade in sozialen Medien vor, dass auch identitätspolitisch Argumentierende Phänomen 1 und 2 verwischen.]

 

Von Christian Schüle

 

[Hier kann man sich fragen, was ein Christian Schüle zu dem Thema beizutragen hat, also welche Expertise er für identitätspolitische  Positionen mitbringt jenseits des Umstandes, dass er ein weißer Mann ist. Diese Frage ist nicht unerheblich, weil ihre Beantwortung Aufschluss darüber geben könnte, was die Motivation des Kommentars ist, also zum Beispiel, ob es in dem Text vor allem, um die Gefühle von Christian Schüle gehen soll, oder um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit identitätspolitischen Positionen. Unten erfahren wir, dass Schüle Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert hat und als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg lebt. Auch hat er einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Dies legt nahe, dass sich Schüle nicht rein persönlich, sondern philosophisch, soziologisch oder politisch (oder studienfachübergreifend) mit der im Vorspann formulierten Frage befassen will: Wer darf über was sprechen? Für die Einordnung des Textes wäre es hilfreich zu wissen, ob es sich also um einen wissenschaftlichen Kommentar oder eine rein persönliche Glosse handeln soll. Das ist im Hinterkopf zu behalten.]

 

Wer darf über was sprechen? Gerade in Diskriminierungsfragen wird diese Frage heißt diskutiert. Der Philosoph Christian Schüle sieht sich als weißer, heterosexuell orientierter Mann in einem verstörenden Kulturkampf um Deutung und kulturelle Hegemonie.

 

[Hier wird erläutert, dass sich der Verfasser der Zeilen in einem Kulturkampf wähnt, und dass ihn dieser Kampf verstört. Warum, erfahren wir noch nicht, aber offenbar geht es um die Frage, wer die Deutungshoheit beanspruchen darf und wer in der Kultur eine Führungsrolle innehat. Auch das ist im Hinterkopf zu behalten.]

 

Kürzlich durfte ich lernen, dass ich Rassist bin. Ich wusste es gar nicht, weil mir im Traum nicht einfiele, mich anderen Ethnien gegenüber abwertend zu verhalten. Nein, ich bin Rassist, weil ich ich bin: ein mittelalter weißer Mann mittelschichtiger, biodeutscher, gar schwäbischer Herkunft mit heterosexueller Orientierung.

 

[Schüle steigt in den Haupttext mit einem persönlichen Erlebnis ein, dass er ein wenig ironisch formuliert: „Er DURFTE lernen…“ Wir erfahren nicht, wer ihn wo und unter welchen Umständen einen Rassisten genannt hat. Wir erfahren stattdessen, dass Schüle sich keineswegs für einen Rassisten hält (Bücher und Podcasts über Rassismus wie die von Reni Eddo-Lodge, Alice Hasters oder Tupoka Ogette weisen darauf hin, dass Menschen sich nicht für Rassisten halten, weil sie beispielsweise strukturellen Rassismus nicht (ausreichend) reflektieren.) Wir erfahren auch, dass Schüle allein deshalb zum Rassisten erklärt wurde, weil er „ein mittelalter weißer Mann mittelschichtiger, biodeutscher, gar schwäbischer Herkunft mit heterosexueller Orientierung“ ist. ]

 

Offenbar kann ich gar nicht kein Rassist sein, da ich in den privilegierten Strukturen der Bundesrepublik groß geworden bin, die aktivistische Antirassisten als rassistisch und Gendertheorien vertretende Subjekte als hetero-normativ repressiv bezeichnen.

 

[Da wir nicht wissen, wer ihn in welchem Kontext aus den genannten Gründen als Rassisten bezeichnet hat, wissen wir nicht, ob Schüle die Aussage richtig einordnet. Denkbar wäre, dass er das Konzept eines "strukturellen Rassismus" nur sehr oberflächlich kennt, und somit auch nicht die Idee, dass weiße Männer von diesen Strukturen oft unbewusst profitieren, wodurch sie den strukturellen Rassismus reproduzieren, also zu seinem Erhalt beitragen. Das macht Schüle natürlich nicht zu einem Rassisten im populären Wortsinn, aber es ist denkbar, dass die Bezeichnung in die "strukturelle" Richtung zielte und sich Schüle weigert, diese zur Kenntnis zu nehmen. Das wiederum ließe den Schluss zu, dass er sich mit der antirassistischen Debatte und Literatur der letzten Jahre nicht auseinandergesetzt hat. P.S.: Dass Schüle für Menschen, die „Gendertheorien vertreten“ das meist abwertend benutzte Wort „Subjekte“ verwendet, lässt nicht auf ein sachliches Anliegen schließen, das sachlich vorgetragen werden soll, sondern um das Erzeugen eines Feindbildes.]  

 

Schlechte Karten als weißer Mann?

 

Nun ja, kurzgesagt: Ich habe dieser verrückten Tage denkbar schlechte Karten, als moralisch korrektes Individuum durchzugehen, obwohl ich in der Gleichwertigkeit aller Menschen das höchste Gut erkenne.

 

[Hier wird formuliert, dass Schüle die Tage, also wahrscheinlich die Zeit, in der er aktuell lebt, für verrückt hält. Mit dieser umgangssprachlichen Formulierung soll vermutlich zum Ausdruck gebracht werden, dass Schüle die Frage, wer sich wozu äußern darf für „verrückt“ hält und womöglich auch alle, die es anders sehen, als er. Damit wäre dann allerdings klar gemacht, dass sich Schüle für eine Debatte auf Augenhöhe nicht interessiert, sondern die Gegenposition lediglich abwerten will. Es ist nicht ganz klar, da die Formulierung „Ich habe dieser verrückten Tage schlechte Karten…“ schwammig ist und kein konkretes Gegenüber benennt. Wer gibt ihm auf welche Weise schlechte Karten, bei wem als moralisch korrektes Individuum durchzugehen? Indem Schüle nicht konkret formuliert, baut er ein schwer greifbares (und somit auch schwer zu widerlegendes) Bedrohungsszenario auf, in dem er das Opfer nicht näher benannten Umstände und Gruppierungen ist. Offenbar fühlt er sich ungerecht behandelt. Denn obwohl er seinen Worten nach die Gleichwertigkeit aller Menschen als höchstes Gut erkennt, sprechen ihm Manche offenbar ab, an dieser Gleichwertigkeit wirklich interessiert zu sein. Hier lässt sich fragen, ob Schüle die Kritik, die ihn offenbar getroffen hat, nachvollziehen will, oder in erster Linie seine Betroffenheit thematisieren und mit einer Abwertung der Kritiker*innen verbinden will.]  

 

Aber darf ich hier überhaupt über Gesellschaft sprechen? Damit geht es schon los. Als mittelalter weißer Mann trage ich bekanntlich die Erbschuld des Kolonialismus der Vorvorväter und der toxischen Männlichkeit an sich in mir, die nach Ansicht von Politikwissenschaftlerinnen für Terror, Krieg, Gewalt und Unterdrückung verantwortlich sein soll.

 

[Hier legt Schüle nahe, dass er aus der Sicht mancher Menschen („Politikwissenschaftlerinnen?) womöglich gar nicht über Gesellschaft sprechen darf, weil er eine „Erbschuld“ in sich trage. Wieder ist nicht klar, wer Schüle hier etwas verbietet. Auch unklar bleibt, was mit „hier“ gemeint ist. Zu beiden Fragen: Der Deutschlandfunk ist es offensichtlich nicht. Auch bleibt weiterhin unklar, ob Schüle das Konzept des Intersektionalismus bekannt ist,  das versucht, anhand von Persönlichkeitsmerkmalen wie biologisches und soziales Geschlecht, ethnische Herkunft, sexuelle Ausrichtung, Religionszugehörigkeit, Körpermerkmale, soziale Herkunft, körperliche bzw. geistige bzw. seelische Gesundheit sowie Handicaps spezifische Formen von Diskriminierung und Bevorzugungen in den Blick zu nehmen. Einer solchen Perspektive zu Folge dürfte Schüle durchaus zu allem reden, es wäre bei manchen Fragestellungen nur unnütz, da Schüle als weißer heteronormativer Mann aus dem Bürgertum bei Fragen der Diskriminierung anhand von Klasse, Geschlecht, Hautfarbe besser als Schüler der betroffenen Gruppen in Erscheinung träte und von sich aus wahrscheinlich nichts Substantielles beizutragen hat. Diese Perspektive kann man durchaus kritisch betrachten, vor allem, wenn sie rigoros und vereinfachend absolut gesetzt wird, also wenn eine Meinung schon deswegen nichts gilt, nicht gehört oder gar unterbunden werden soll, weil sie von einem weißen Mann vorgetragen wird. Solche Argumentationsmuster sind in den sozialen Medien zu beobachten. Wie stark sie zu gewichten sind, ist eine andere Frage.]

 

Was kann ich tun? Mich demütig und dauernd entschuldigen? Mich schämen für mich und mein Geschlecht? Die Klappe halten oder Aktivist werden?

 

[Es ist nicht klar, wem Schüle diese Fragen stellt, aber er scheint damit in Form rhetorischer Fragen die Optionen aufzuzählen, die ihm die Kulturkämpfer*innen gewähren. Optionen, die aber – auch das kann man nur vermuten – für Schule nicht in Frage kommen.]

 

Subjektiv konstruierte Identitäten

 

Seit kurzem findet ein verstörender Kulturkampf um Deutung, kulturelle Hegemonie, psychische Hypersensibilität und politische Repräsentation statt. Wichtiger als Inhalt und Aussage sind Herkunft und Haltung des Sprechenden. Es kommt nicht mehr auf Text und Kontext an, sondern auf die Sprech-Berechtigung dessen, der spricht. 

 

[Es ist nicht klar, was Schüle mit „seit kurzem“ meint, zumal schwarze Frauen in den USA bereits in den 1960ern innerhalb einer revisionistischen feministischen Theorie ihre Diskriminierung als Frauen UND als Schwarze identitätspolitisch formulierten und die Triple-Oppression-Theorie (race-class-gender) bereits in den 1980ern aufkam. Auch die Frage nach der „Sprecherposition“, also wer legitim in welchem Kontext über was reden kann bzw. die Deutungshoheit über einen Sachverhalt hat, ist in der Diskursforschung gerade innerhalb der Sozialwissenschaften spätestens seit 2005 durch die wissenssoziologische Diskursanalyse von Reiner Keller bekannt. Vermutlich formuliert Schüle hier, dass ihm das Thema während des Studiums nicht begegnet ist, nun aber seit kurzem als Phänomen begegnet und zu schaffen macht.]

 

Statt mit wissenschaftlicher oder intellektueller Erkenntnisarbeit Verstehen und Verständnis zu produzieren, geht es um das Bestreben, subjektiv konstruierte Identitäten auch radikal subjektiv auszudrücken und sichtbar zu machen.

 

Um es, bei allem Respekt, zuzuspitzen: Werden in Kürze die intersexuelle Veganistin transkaukasischer Abstammung oder das kontrasexuelle Subjekt mit animistischer Spiritualität, die/der/das sich von der Mehrheit unterdrückt fühlt, die Agenda der öffentlichen Rede bestimmen, weil ihre potenziellen Kränkungen nur sie zur Rede legitimiert?

 

[Respektvoll wirkt der Kommentar von Schüle, der einen Begriff wie „Subjekte“ benutzt, bisher nicht. Zumal er sich in seiner Widerrede nicht auf identitätspolitische oder intersektionalistische Argumente bezieht, sondern auf deren verzerrte Interpretation durch Teile der Linken und großer Teile ihrer Kritiker*innen. Das zeigt sich auch in dem oben stehenden Absatz, der mit launigen Identitäts-Zusammenstellungen wahrscheinlich auf die Schenkelklopfer der Leserschaft abzielt: Die Frage, ob die intersexuelle Veganistin – Schüle meint wahrscheinlich Veganerin – in Zukunft die Agenda der öffentlichen Rede bestimmen wird – stellt sich so nicht. Die Frage ist vielmehr, ob die Deutungshoheit zum Thema Intersexualität nicht in erster Linie bei Intersexuellen liegen sollte. Auch darüber kann man debattieren, wie es innerhalb der Linken seit Jahren vehement und teils auf hohem Niveau (Kimberlé Crenshaw, Jeff Sparrow u.a.) getan wird. Wahrscheinlich hätte Schüle kein Problem, anzuerkennen, dass man beim Thema „Vergewaltigung“ oder „Holocaust“ vor allem die Stimmen von Betroffenen berücksichtigen sollte und dass man als weder von Vergewaltigung noch von der Judenvernichtung betroffener Philosoph seine eigene Sprecherposition gut überdenken sollte.] 

 

Versagen linker Antworten

 

Dass jetzt überall klare Zeichen gefühlter Benachteiligung erkannt werden, ist Resultat eines quasireligiösen Befreiungsmoralismus, den man „Identitätspolitik“ nennt. Es ist das Kernthema neuer linker Ideologie, da die alte Linke versagt hat und weder einen attraktiven ökonomischen Gegenentwurf zum Kapitalismus anbieten, noch den Rechtsnationalismus aufhalten konnte, dem europaweit beträchtliche Teile der arbeitenden Klasse in die Arme laufen.

 

[Der erste Satz enthält drei Behauptungen, denen keine Begründung oder Quellenangabe folgt. Der zweite Satz enthält fünf Behauptungen, denen keine Begründung oder Quellenangabe folgt. Mehrere dicht miteinander verzahnte Behauptungen dürften darauf abzielen, die Leserschaft zu überwältigen, anstatt mit Argumenten und Belegen zu überzeugen.]

 

In der vor allem von jungen Aktivistinnen und Aktivisten betriebenen Identitätsdogmatik stecken erstaunliche Denkfehler.

 

Erstens. Obwohl Herkunft oder Identität ja eben kein Kriterium zur Wertung mehr sein sollen, werden sie im Kampf um Sichtbarkeit gerade explizit zur zentralen Kategorie erhoben.

 

Zweitens: Diversität setzt Differenz voraus, die durch falsch verstandene Gleichmacherei aber ja gleich wieder aufgehoben wird. Mit der feststellenden Beschreibung von Merkmalen des Diversen ist ja keineswegs automatisch dessen Abwertung verbunden.

 

Drittens: Gerade indem man einen Menschen zum Opfer erklärt, stellt man ihn auch als Opfer aus. So entsteht eine Opferkonkurrenz um Aufmerksamkeit.

 

[Schüle, der den „jungen Aktivistinnen und Aktivisten“ einer „Identitätsdogmatik“ erstaunliche Denkfehler bescheinigt, erzeugt in seinen drei Punkten seinerseits einen logischen Widerspruch. Unter „Erstens“ vermerkt er, dass innerhalb einer „Identitätsdogmatik“ „Herkunft oder Identität“ (hier mag er sich nicht entscheiden) zur zentralen Kategorie erhoben werden. Unter „zweitens“ unterstellt er dann, dass die „feststellende Beschreibung von Merkmalen des Diversen“ in Namen einer „falsch verstandenen Gleichmacherei“ aufgegeben werden sollten. Nun können Identitätspolitiker*innen aber schlecht diverse Identitäten formulieren, ohne auch diverse Merkmale anzuführen. Eine solche Beschreibung wird dabei nicht als Problem gesehen. WAS in identitätspolitischen Positionen problematisiert wird sind die (oft auch subtilen) Abwertungen, die mit Merkmalen wie „dick“, „schwarz“, „arm“ verbunden sind. Schüle ist hier nicht bereit, zwischen „feststellender Beschreibung“ und den abwertenden Zuschreibungen, die (auch unbewusst) mit diesen Beschreibungen verbunden sind, zu differenzieren. Er lastet diese mangelnde Bereitschaft jedoch nicht sich selbst, sondern dem Gegenüber an. Unter „drittens“ trifft er im ersten Satz einen Punkt, der durchaus kontrovers unter Linken diskutiert wird. Wäre allerdings die Ausstellung als „Opfer“ generell als das größere Übel zu betrachten, dann hätten weder Menschen gegen Sklaverei noch Frauen ums Frauenwahlrecht noch die Bauern um eine Abschaffung der Leibeigenschaft streiten müssen. In der Verkürzung ist Schüles Einwand als reaktionär zu betrachten.]

 

Neue, antiaufklärerische Ära

 

In einem Klima hypermoralischer Erhitzung, ist Identitätspolitik das Geschäftsmodell selbsterklärter Aktivisten und Aktivistinnen, die die Komplexität der Sachverhalte gern auf eine moralische Monade reduzieren. Wir rutschen immer stärker in eine antiaufklärerische, fundamentalistische, intolerante Ära hinein.

 

[Hier formuliert Schüle ein Bedrohungsszenario. Dabei bezeichnet er Aktivisten und Aktivistinnen als „selbsterklärt“. Das wirft die Frage auf, welche Aktivist*innen nicht selbsterklärt sind, also auf eine Berufung von ganz oben bauen können. Hier demonstriert Schüle meines Erachtens in einem im Furor vermutlich unbewusst hingeschriebenen Adjektiv seine konservativ-hierarchisches Gesellschaftsverständnis. Mit dem Wort „Geschäftsmodell“ unterstellt er identitätsdogmatischen Aktivist*innen die unlauteren Motive des Gelderwerbs, was angesichts antisemitischer Stereotype keine ganz unproblematische Unterstellung ist. Abgesehen davon hat Schüle für seinen Beitrag sicher Geld erhalten, während sich mir das „Geschäftsmodell Identitätsdogmatik“ bisher nicht zwingend erschlossen hat. Mit dem von Leibniz stammenden Wort „Monade“ stellt Schüle hier in einem ein bedrohliches Feindbild beschwörenden Absatz seine Bildung aus. Das kann als Versuch gewertet werden, dem nicht  belegten (und generell schwer zu belegenden) Szenario bildungsbürgerliche Autorität zu verleihen.]  

 

Und ich – mittelalter weißer hetero-normativer Mann – schäme mich kein bisschen, darüber gesprochen zu haben.

 

[Hier möchte ich noch einmal auf die zwei Punkte zurückkommen, die im Hinterkopf behalten werden sollten: Da ist zum einen die Frage: Handelt es sich bei diesem Kommentar vorrangig um eine Auseinandersetzung zur Problematik der Sprecherposition mit dem Ziel des Erkenntnisgewinns oder eher um eine Glosse, die eine persönliche Kränkung zu verarbeiten sucht? Für das Zweite spricht der polemische Tonfall samt Abwertung eines nicht näher benannten Gegenübers, die vielen nicht belegten oder näher begründeten Behauptungen, die persönliche Rahmung – Einstieg und Ausstieg des Textes – sowie das offenkundige Desinteresse an identitätspolitischen oder intersektionalistischen Positionen. Zum anderen bleibt die Frage, welche Rolle Lehrstuhlinhaber Christoph Schule innerhalb eines von ihm wahrgenommenen Kampfes um kulturelle Deutungshoheit innehaben könnte. Wahrscheinlich ist: eine mehr als früher in Frage gestellte. Seinen Umgang damit hat uns Schüle hier demonstriert. Dass dieser Umgang hier augenscheinlich nicht souverän, interessiert oder intellektuell redlich ausfällt, lässt auf eine nicht reflektierte emotionale Betroffenheit des Autors schließen. Insofern legitimiert ihn seine Sprecherposition als weißer männlicher Universitätsprofessor durchaus zu diesem Text.]

 

 

P.S.: Allgemein formuliert lassen sich in meinen Augen anhand des Artikels von Schüle vor allem folgenden rhetorischen Kniffe für Artikel finden, die auf stimmungsmachende Weise an den Groll der Leserschaft appellieren.

 

1. Zugleich klares und diffuses Feindbild: Ich erkläre eine Gruppe oder Position eindeutig zu einem Problem oder einer Gefahr. Dabei differenziere ich nicht verschiedene Gruppen, Phänomene und Positionen, sondern bündele sie zu einem klaren, homogenen Feindbild. Ich achte aber auch darauf, diesen Feind vielgestaltig erscheinen zu lassen. Er darf keineswegs als kleine, eindeutig zu lokalisierende Gruppe erscheinen, sondern muss mächtig, gefährlich und irgendwie überall sein. Vielleicht ein Zeitgeist, dem ich mich mutig und "noch selbst denkend" widersetze. Auch, um meinem Artikel Gewicht zu verleihen. Dabei helfen mir 2., 3. und 4.

 

2. Verallgemeinernde Formulierungen: Mit Formulierungen wie „man darf heute ja kaum noch was sagen“ oder „Die da oben profitieren mal wieder“ oder „Mittlerweile kommt es nur noch auf die Sprechberechtigung des Sprechers an“ hebele ich konkrete Fragen nach dem wer?, wann?, wo? und wie? aus und erzeuge ein allgemeines, kaum zu überprüfendes Bedrohungsszenario durch eine schwer greifbare, sicher aber große Gruppe. Ein Beispiel aus Schüles Text ist die Formulierung: „Wichtiger als Inhalt und Aussage sind Herkunft und Haltung des Sprechenden. Es kommt nicht mehr auf Text und Kontext an, sondern auf die Sprech-Berechtigung dessen, der spricht.“ Unklar bleibt: Wann, wo, warum und in welchem Kontext kommt es angeblich nicht mehr auf Kontext an? Ein weiteres Beispiel aus Schüles Text nutzt das Wort „überall“ und definiert „Identitätspolitik“ als „quasireligiösen Befreiungsmoralismus“: „Dass jetzt überall klare Zeichen gefühlter Benachteiligung erkannt werden, ist Resultat eines quasireligiösen Befreiungsmoralismus, den man „Identitätspolitik“ nennt.“

 

3. Übergeneralisieren: Ich benutze große Begriffe, erkläre aber nicht genau, was ich damit meine oder differenziere sie nicht aus. So kann ich Vokabeln wie „Identitätspolitik“, „Superreiche“, „Cancel-Culture“, „Neoliberale“ oder „Juden“ wie ein Behältnis mit allem möglichen anfüllen, assoziativ mit anderen Begriffen kombinieren und die Leserschaft dazu inspirieren, das genauso zu tun.

 

4. Assoziieren und Verunklaren: Je unklarer ich im Gesamten formuliere (am besten kunstvoll kontrastiert mit einzelnen besonders präzisen Anekdoten), desto besser. Dann nämlich kann die Leserschaft besonders gut eigene Ressentiments und negative Erfahrungen in die Gruppe hinein lesen und sich zu einem „wir“ zählen, das von „denen“ bedroht wird. Indem ich mit Andeutungen, Assoziationen und Behauptungen arbeite, untergrabe ich die Möglichkeit, den Text präzise zu hinterfragen. Ich appelliere nicht ans Denken, sondern an Gefühle wie Angst, Kränkung, Schadenfreude, Rachegelüste usw. Dabei helfen mir auch Buzzwords und bewertende Adjektive wie „verstörend“, „Geschäftsmodell“, "hypermoralisch", "fundamentalistisch" oder "quasireligiös".

 

5. Jumping to conclusions: Von einem anekdotischen Phänomen (z.B. jemand hat mich Rassist genannt, obwohl ich mich selbst nicht so sehe) komme ich ohne viele Zwischenschritte zu Formulierungen wie „Wir rutschen immer stärker in eine antiaufklärerische, fundamentalistische, intolerante Ära hinein.“ Es ist nicht nötig, meine starken Behauptungen zu belegen, da ich insgeheim nicht über Fakten sondern über Ängste spreche, ohne den Übergang von Info zu emotionaler Interpretation zu kennzeichnen. Die Fakten in meinem Artikel sind dabei oft dünn und werden von mir nicht unvoreingenommen betrachtet, sondern unter der Vorherrschaft meiner persönlichen Gefühle (z.B. von Kränkung, Angst vor Zurücksetzung, Verunsicherung usw.).

 

6. Kumpelhafter Tonfall: Durch bestimmte Wörter und Sätze suggeriere ich der Leserschaft, dass ich auf ihrer bzw. sie auf meiner Seite steht. Bei Schüle sind das beispielsweise: „Kürzlich durfte ich lernen, dass ich Rassist bin“, „gar schwäbischer Herkunft“, „Nun ja, kurzgesagt“, „bekanntlich“, „Damit geht es schon los“…

 

7. Bildungsbürgerliche Begriffe: Gleichzeitig demonstriere ich durch die Verwendung bestimmter Begriffe, dass ich zum Bildungsbürgertum gehöre. Damit verschaffe ich meinen persönlichen Ansichten eine größere Autorität und lasse sie wie das Ergebnis einer seriösen wissenschaftlichen Auseinandersetzung erscheinen.

 

8. Strohmann-Argumente: Ich unterstelle dem Feindbild möglichst schiefe oder rundum falsche Argumente bzw. nutze in der Auseinandersetzung mit einer Position nur diese. Auch unterstelle ich dem Feind gleichzeitig schäbige Absichten und Dummheit bzw. Denkfehler und (in Deutschland) am besten noch Geldgier. Wie das geht führt Schüle in seinem Text mustergültig vor.

 

9. Projektion: Meine eigenen Ressentiments unterstelle ich dem Feindbild, das ich auf antiaufklärerische, intolerante Art mit moralischem Furor als antiaufklärerisch, intolerant und hypermoralisch bezeichne. Lässt sich die Leserschaft auf meinen Text ein, wird sie dieses Manöver gerne mitmachen und dessen entlastende, selbst-erhebende Wirkung genießen.