Ein Tag am Strand

(erschienen in: "Erfindungen und Geborgenheiten", hrsg. von Marcel Diel, edition anderswo 2003)

 

Gleichmäßig rauscht das Meer und gibt dem Rufen und Lachen der Badenden einen Rhythmus. Es riecht nach Wind und Sonne und Salz. Er ahnt, dass es wieder kommt.

 

„Schatz, möchtest du uns nicht etwas zu trinken holen?“

„Was?“

„Etwas zu trinken, es ist sehr heiß.“

„Ja, es ist heiß. Was willst du denn haben?“

„Wasser. Wasser haben sie doch bestimmt.“

„Bestimmt.“ Langsam steht er auf. Der Sand brennt unter seinen Füßen. Er bahnt sich einen Weg durch die Liegenden. Die Bude ist noch weit weg. Flaschen mit Sonnencreme, bunte Wasserbälle und Strandsandalen. Beine, in Richtung Meer gestreckt. Er ahnt, dass es kommt. Die Tabletten sind im Hotel. Zehn Minuten zu Fuß. Viel zu weit weg. Die zahllosen Stimmen beginnen zu knattern wie Sperrfeuer, das sind keine vergnügten Kinder, die schreien. Er kneift die Augen zusammen. Vielleicht noch hundert Meter bis zur Bude. Das Zittern beginnt in seiner Körpermitte. Sie kann es nicht sehen. Ihre Sonnenbrille starrt ins Blaue. Sein Atem geht immer schneller, während er versucht ihn zu kontrollieren. Jetzt kommen die Schüsse deutlicher an sein Ohr. „Mein Atem geht ganz ruhig. Mein Atem geht ganz ruhig! Ganz ruhig!“ Seine Augen visieren nur die Bude an und bemühen sich, nicht nach rechts oder links auszubrechen. Ein lachendes Pärchen schwebt an ihm vorbei.

„Passen Sie doch auf!“

„Was? Oh...ja, Verzeihung!“

„Träumt mit offenen Augen.“

Die Augen des dicken Mannes sind wässerig.

„Entschuldigung.“

Die Tabletten sind im Hotel. Blau am einen Ende, Gelb am anderen. Gelb und blau. Gelb und blau. Er will den Geräuschen nicht glauben. Das Maschinengewehrknattern und die rauen Rufe bleiben. Dazwischen Schreie.

„Bitte nicht“, flüstert er. Körper sacken zu Boden. Er muss erneut die Augen schließen.

„Bitte, bitte nicht!“

Er weiß nicht, wie lange er so steht. Kein Sand mehr unter den Füssen.

„Jetzt reiß dich mal zusammen!“ Die stimme schlägt ihm ins Gesicht und zwingt ihn wieder hinzusehen.

„Schmidt?!“ Seine Lippen beben.

„Ja, was glaubst du denn?“ Schmidt schüttelt den Kopf, reibt sich fahrig den Nacken.

„Geh in Deckung, Wischkowski!“

„In Deckung? Ich wollte zur Bude, Wasser für Natascha holen.“

„Dreh nicht durch!“

Eine Feuergarbe züngelt lautstark aus dem Boden. Schmidt reißt ihn mit sich herab unter einem Schauer aus Sand.

„Verdammter Idiot. Hier gibt es keine Natascha, kapiert, Gefreiter Wischkowski?“

„Nein, nein, nein!“

Er bekommt einen Schlag in die Seite.

„Fresse halten und liegen bleiben!“ Schmidt lädt sein Gewehr nach. Hinter ihm spuckt einer der Jungen Blut.

„Weißt du was Schmidt?!“

„Fresse hab’ ich gesagt! Du bist durch.“

„Du bist gar nicht da. Ich steh’ jetzt auf und hole Natascha ihr Wasser.“

„Einen Scheißdreck tust du!“

„Hier rüber, hier rüber!“, bellt jemand aus der Ferne.

„Wischkowski?“ Schmidt stößt ihn an. „Hör mir jetzt gut zu: Du läufst mir hinterher. Siehst du den Hügel da vorne?“

„Ich geh zur Bude!“

„Schau dich an! Los, schau dich an! Ist das eine Uniform, oder was? Ist das ein Gewehr? Wir sind hier nicht auf einem gottverdammten Picknick!“

„Sieht so aus, aber Dr. Leubuscher hat...“

„Scheiße, Mann! Scheiß auf... Du tust jetzt, was ich sage, oder du gehst drauf. Verlier bloß nicht die Nerven, Mann! Hast du mich verstanden?“

Schmidts Augen blitzen. Seine Hand verkrallt sich in Wischkowskis Schulterlitzen.

„Ich zähl’ bis drei, dann laufen wir los. Wenn du nicht mitkommst, bist du raus.“

Wischkowski beginnt zu pfeifen. Er zwingt sich, an Dr. Leubuschers Empfehlungen zu denken, auch wenn alles so täuschend echt wirkt. Er muss der Angst Herr werden, darf nicht in ihr versinken, sonst kommt der Alptraum immer wieder. Blau und gelb.

„Ja, ja!“, sagt er. Das Zählen des Kameraden hört er kaum. Irgendwo da hinten plantschen Kinder im Wasser, lassen sich Möwen vom Wind tragen, spielen junge Leute Volleyball.

„...Drei!“ Schmidt läuft los. Wie ein Sportler prescht er zwischen den endlosen Reihen liegender, sitzender und stehender Leiber hindurch.

„Ich bleibe bei mir. Ich bin in meiner Mitte. Alles ist in Ordnung!“, sagt Wischkowski immer wieder. „Ich entscheide, was wirklich ist.“

Die Schüsse und das atemlose Rufen werden leiser. Er kann die Bude ganz deutlich vor sich sehen. Keine Brise bewegt die Fähnchen mit Eisreklame. Noch ein paar Schritte, dann steht er in der Schlange. Niemand sieht sein Zittern. Er kann den Sand wieder an den Fußsohlen spüren. „Ich bleibe bei mir. Ich bin in meiner Mitte. Alles ist in Ordnung!“

Der Atem geht noch zu schnell.

„Alles in Ordnung?“ Eine unbekannte Stimme.

„Hmmm. Ein Wasser bitte!“

„Ein Wasser?“ Der schwarzhaarige Fremde lächelt, als er sich zum Kühlschrank dreht. Er holt eine Flasche, wendet sich dann plötzlich wieder um.

„Entschuldigen Sie, aber womit möchten Sie eigentlich bezahlen?“ Das Lächeln ist ein Grinsen.

„Äh, was?“

„Ich meine, Sie stehen hier mit leeren Händen in Badehose und...“

„Jaja... Sie haben recht. Ich habe das Geld bei meiner Frau vergessen.“

„Tut mir leid. Da müssen Sie wohl noch mal zurück. Ich stell Ihnen das Wasser so lange wieder kalt.“

„Ja.“

Wischkowski blickt zurück. Sein Körper pulsiert noch immer wie eine offene Wunde. „Bitte nicht mehr“, winselt er vor sich hin. Er überlegt, ob er zum Hotel gehen soll. Ihm ist zum Weinen zumute. Er kann nicht in den warmen, ruhigen Armen Nataschas weinen. Sie wird es nie verstehen, denkt er. Sie ist nicht dort gewesen.

        

„Verzeihung?!“ Ein kleiner Junge, mit einem Plastikdelphin unter dem Arm blickt ihn fragend an. „Ist das echtes Blut?“

„Woher kenne ich das Kind?“, fragt sich Wischkowski. Ganz langsam sieht er an sich herab. Es knackt in seinem rechten Ohr, bis er dort nichts mehr hört. Er spürt keinen heißen Sand unter sich. Seine untere Körperhälfte ist taub. Er beobachtet die Innereien, die von dort auf die Erde tropfen. Uniform wuchert aus seiner Haut. Seine rechte Hand umkrampft einen Gewehrschaft. Eben dachte er noch, er steht. So blau ist der Himmel gar nicht. Gesichter: bleich und ernst. Unruhige Hände. Mullbinden. Er sucht nach Nataschas Gesicht. Doch alle Bilder verlöschen zu Schwarz. Die Geräusche bleiben am längsten. Und irgendwo die Sonne, der Wind, das Meer.

„Ich bleibe bei mir. Ich bin in meiner Mitte“, murmelt Wischkowski. Immer ferner klingt das Rufen.                         

"Der ist durch!", stirbt Schmidts Stimme.

                                                  

 

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EIN TAG AM STRAND • Anselm Neft
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