Ein großes Feuer

(Februar 2012)

 

Ich bin wieder oder immer noch 13 Jahre alt. Es ist Nacht, und das Haus und die Treppe, auf die ich schaue, sind im Schein der hoch aufragenden Straßenlaternen ein gelblich graues Bühnenbild aus geometrischen Figuren. Die Haustür öffnet sich nach außen und Tom tritt auf den Treppenabsatz als ein Schemen, der größer wirkt, als er sein sollte. Während er in schnellen aber behutsamen Schritten die Stufen herunterkommt, wird er kleiner und deutlicher. Vielleicht spielen mir meine Augen einen Streich, weil es so still ist und ich so angestrengt lausche. Ich achte auf jedes Geräusch, denn jedes kann Gefahr bedeuten, wenn es nicht bloß das Rauschen eines Autos auf der das Dorf zerteilenden Landstraße ist.   

 

Tom geht das größere Risiko ein. Merken seine Eltern, dass er sich aus dem Haus geschlichen hat – diesmal aus einem Zimmer unterm Dach eine immer blank geputzte Granittreppe herunter durch eine Haustür aus Stahlgitter und Glas auf die Außentreppe – dann werden sie ihm wehtun. Meine Eltern würden mir auch wehtun, indem sie es gar nicht beachteten, aber das ist nicht dasselbe, denke ich, und weniger schlimm, denn es passiert ja nichts anderes als sonst. 

 

Weil Tom mehr riskiert, bringe ich den Wein: eine Flasche Riesling mit dem Namen „Graacher Himmelreich“, den wir auf dem höchsten Punkt der Felder trinken wollen. Zwischen lauernden Häusern führen die Straßen aus Teer zu den Wegen aus Erde. Es riecht nach der abgekühlten Hitze des vergangenen Mittags. Bald stehen links und rechts die Maispflanzen, die tagsüber harmlos wirken. Ihre Kolben sind sogar lustig mit ihren spärlichen Schöpfen auf den grünummantelten Kegeln, aber in der Dunkelheit erwecken die Pflanzen eine andere Vorstellung: Man taucht in ein solches Feld ein, weil man sich verstecken muss, und dann sucht man den Weg zurück und findet ihn nicht, weil die Pflanzen viel höher und viel mehr sind, als man dachte. Sie sind zu einem Dschungel gewuchert und aus dem Versteck ist eine Falle geworden. Man schreit und weiß, dass niemand jenseits des Feldes den Schrei hört, weil das Feld stadtgroß geworden ist, und in seiner Mitte, zu der früher oder später jeder Weg führt, steht in schwarzen Lumpen eine Gestalt mit langen weißen Haaren und verbirgt ihr Gesicht.   

 

Je weiter wir das Dorf hinter uns lassen, desto weniger fühlen wir die glucksende Aufregung. Wir schweigen, weil wir so erhaben sind wie die Nacht über den Feldern. Unser Weg steigt an in ein schiefes Dreieck aus Mais, Weizen und Weidegras, an zwei Seiten eingeschlossen von Wald, in unserem Rücken vom Dorf. Die Bäume des Waldes rechterhand starren auf uns herab, so wie wir auf die Bäume links von uns herab blicken: ein geronnenes Meer aus Laub. 

 

Am höchsten Punkt endet der Weg, ein kleinerer zweigt von ihm ab und schlängelt sich in die Senke. Hier setzen wir uns hin, und ich hole gleich das Schweizer Offiziersmesser aus meiner Hosentasche und klappe den Korkenzieher heraus. Das schöne grüne Glas der Weinflasche liegt glatt und kühl in meiner Hand. Zuerst bekommt Tom den entkorkten „Graacher Himmelreich“. Er riecht daran, dann trinkt er die Hälfte in einem Zug, schüttelt sich und gibt mir die Flasche. Ich trinke ebenfalls auf Ex. Der Wein prickelt durch die Speiseröhre in den Magen und glüht von dort bis in die Beine und Hände. Der Hals wird weiter, die Brust atmet tiefer und aus dem Bauch schwindet der Druck, den ich nur wahrnehme, wenn er plötzlich aufhört zu sein. Ich schäme mich gar nicht, als ich Tom in die Augen sehe und lächle. Er guckt seltsam, aber nicht unfreundlich. Ich wende den Blick ab und sage „geiler Wein“. Dann falle ich auf den Rücken und schaue mit angewinkelten Beinen in den Sternenhimmel. 

 

Nach einer Weile fällt auch Tom nach hinten, weil ich sage, dass ich eine Sternschnuppe gesehen habe, was nicht stimmt. Dann sehen wir tatsächlich eine, und jeder kann sich im Stillen etwas wünschen. Erst denke ich, dass mir das Wünschen schwer fällt, weil ich so viele Wünsche habe. Als ich aber versuche auch nur einen zu benennen, erscheint mir das, was ich denke, nicht wie ein Wunsch sondern wie eine Idee, die jemand anders interessanter finden könnte. Denke ich über Wünsche nach, denke ich über die Wünsche anderer nach, und auch darüber, was andere für mich wünschen könnten und was sie wollen könnten, dass ich es will. Vermutlich wäre es normal, wenn ich mir einen Freund wünschen würde, aber ich habe ja Tom. Ich könnte mir auch eine Freundin wünschen, weiß aber nicht, was ich mir darunter vorstellen soll. Ich könnte mir wünschen, dass die Schule schon vorbei ist, aber ein echter Wunsch müsste sich doch auf das richten, was dann stattdessen sein soll.  

 

Der Wein wirkt in Schüben. Wir gehören in die Nacht, zum Bellen des Kettenhundes, der beim Gehöft anschlägt, in die Dunkelheit zwischen den Bäumen des Waldes, zum Ruf einer 

Eule, zum Wind, der aufkommen und in den Blättern rauschen wird. Wir gehören zu den schwarzen Wolken mit gelb aufleuchtendem Rand, die im Herbst vor dem Mond ziehen werden, in das weiße Glimmen der Sterne und das Knirschen des Schnees in der Stille künftiger Winternächte, zu den plötzlichen sinnlosen Blüten des nächsten Frühlings. Wir gehören zu etwas Wildem und Dunklem, deshalb, weil wir nicht zum Dorf gehören, das behauptet gezähmt und hell zu sein. 

 

Als wir wieder aufstehen, sehen wir einen Teil des Dorfes: Straßenlaternen, Ahnungen von Häusern, Garagen und Gärten. Wir schauen auf Vierecke von größerer Finsternis mit Fenstern, die nur sichtbar sind, wenn vereinzelt Licht sie füllt, in die Schwärze verstreut wie die Flämmchen der Kerzen auf dem Friedhof. 

 

Ich muss mir vorstellen, dass ein Mann hinter einem dunklen Fenster steht und mich durch ein Fernglas beobachtet. Es ist ein Fernglas, mit dem man auch in der Nacht sehen kann. Er kann ein Rädchen drehen und mich ganz nah heranholen, so groß, dass er nur noch mein Gesicht vor sich hat. Lieber hätte ich ein Fernglas, um ihn zu beobachten, aber nicht dabei, wie er mich beobachtet wie ich ihn beobachte, sondern wie er heraus schaut und gar nichts sieht, weil die Felder zu weit weg sind. Ich beobachte das Dorf und entziehe mich seinem Blick.   

 

In Tom geht etwas vor. Er verändert sich. Ich frage mich, was er sich gewünscht hat, aber ich weiß, dass man das bei Sternschnuppenwünschen nicht verraten darf. Ich will nicht, dass er hier steht und aufs Dorf starrt, sondern dass er mit  mir runtergeht zum Anglerteich am Waldrand. Vielleicht findet sich wieder eine Flasche Schnaps in der Hütte. Ich sage das, aber Tom scheint nicht überzeugt, und in mir steigt die Furcht auf, er könnte bald nach Hause wollen, wenn ich nicht die richtige Mischung aus Überzeugungskraft und Desinteresse finde. 

 

„Ein großes Feuer“, sagt Tom und die Worte sind nicht an mich gerichtet. Dann dreht er sich zu mir mit einem Blick, der mich sofort wachsam sein lässt. Ich kenne solche Augen bei Betrunkenen, die Dinge sagen und machen, die ihnen später leid tun, was aber nichts mehr ändert.

„Das wär’s“, sagt Tom. „Ein richtig großes Feuer. Man müsste die Windrichtung und die Windstärke einplanen. Man bräuchte sehr viel Benzin. Es müsste in der Nacht sein, damit einen niemand stört, und weil es besser aussieht. Man steht dann hier und sieht wie alles brennt.“

„Ich weiß nicht“, sage ich. „Das geht doch gar nicht. Wie soll das klappen?“

Tom schüttelt den Kopf. Er wiederholt, weil ich es offenbar nicht kapiert habe: „Ein großes Feuer.“

„Benzin verdunstet“, sage ich. „Und die Häuser brennen nicht so leicht. Und wenn eins brennt, dann brennt noch lange nicht das nächste.“

„Es müsste alles sehr genau geplant sein. Ich habe nicht gesagt, dass es einfach ist. Du sollst es dir jetzt nur vorstellen. Das riesige Feuer. Eigentlich sind es viele große Feuer. Ein richtiger Brand mit Rauchsäulen, die zu einer einzigen schwarzen Wolke aufsteigen. Das sollst du dir vorstellen und die Schreie und dazu die Kirchenglocke.“

„Oder die Feuerwehrsirenen.“

„Ein Feuer, so groß, dass man es von einem Flugzeug aus sieht.“

„Vom Weltall aus.“

Tom sieht mich böse mit aufgerissenen Augen an: „Du sollst es nicht mit Übertreibungen kaputt machen.“ 

Ich nicke. „Ja, stimmt. Sag mal, hört man das Feuer dann auch?“

„Es klingt wie ein Fauchen. Viel lauter, als du denkst. Die Balken der Häuser krachen in sich zusammen, die Dächer stürzen ein. Die Tannen stehen in weißen Flammen und die Leute verbrennen in ihren Betten oder ersticken auf dem Weg nach draußen.“ 

„Und dann geht man am nächsten Tag durch die Ruinen und den Qualm.“

„Die Asche von Aktenordnern, Büchern, Gardinen.“

„Das ganze Holz ist total verkokelt.“

„Und die Körper liegen schwarz und krumm in den Zimmern.“

„Auch die Kinder und Babys.“

„Auch die. Alle.“

„Sag mal, sollen wir nicht doch noch zum Teich? Mal so gucken?“

Tom starrt weiter auf das Dorf. Er schüttelt den Kopf und ich weiß, dass unsere Nacht zu Ende geht.

 

Wir gehen zurück: über die Wege, über die Straßen zwischen den Laternen. Wir flüstern und unterdrücken ein aufgekratztes Lachen als Tom wieder einmal beschließt, in einem anderen Haus zu wohnen. Diesmal verschwindet er durch eine Tür aus weißlackiertem Holz und mit löwenköpfigem Klopfer. Ich sehe ihm nach, schüttele den Kopf über diesen Unsinn und bin allein. 

 

 

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EIN GROSSES FEUER • Anselm Neft
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