Der Irre vom Ringcenter

(erschienen in: "Die Lebern der Anderen", Ullstein 2010)

 

Am Anfang schlief ich sehr tief und sehr fest. Und mein Körper war taub und starr, und es war finster vor meinen Augen, und mein Geist schwebte über der Brühe, die in meinem Schädel schwappte.

Dann blitzte etwas hinter meinen geschlossenen Lidern und es wurde gleißend hell, und für einen Augenblick schied sich das Licht von der Finsternis, und mir wurde speiübel. Und ich nannte die Dunkelheit Freund, dass Licht aber Schmerz.

Gott, war mir schlecht.

Zum ersten Mal in meinem Leben glaubte ich, mein Gehirn spüren zu können, wie es lose im Schädel von links nach rechts rutschte und pulsierte. Von dort zog sich ein Draht bis zu meinem Magen, wickelte ihn als Schlinge ein und quetschte mit jedem Pulsschlag sauer ätzenden Saft die Speiseröhre hinauf. Auf der pechschwarzen Leinwand meiner geschlossenen Lider trieben brackwasserfarbene Flecken mit grün schillernden Rändern von links unten nach rechts oben, während mein Körper völlig unbewegt dalag, wie in zentimeterdicken Teig eingebacken.

Ich trieb auf einem Floß zwischen Gestaden verbrauchter Luft, während sich nach und nach Erinnerungen einstellten, matt und weit weg, wie verblassende Träume. Ich sah mich selbst an einem Tresen stehen, eine Fratze des Frohsinns anstelle eines Gesichts, und hörte mich sagen: „Einen können wir doch noch.“

Mit einem Ruck riss ich die Lider auf. Ein Blitz schoss durch meinen Schädel und zerfetzte die Brücke zwischen linker und rechter Gehirnhälfte zu schmorenden Trümmern. Gallige Wasser trieben aus meinem Magen herauf, hielten kurz vor der Mündung inne und flossen zurück. Ich stieß einen Urlaut aus.

Gott, war mir schlecht. So schlecht.

Irgendwann tat ich etwas kaum Vorstellbares: Ich richtete mich auf. Ein Akt, der meinen Körper in einen kalten Schweißfilm tauchte. Die Kraft zu dieser Anstrengung war mir von einer Vision verliehen worden: Eine eisbeschlagene Glasflasche randvoll mit schwarzer Flüssigkeit – Coca Cola.

Durch mein erfolgreiches Aufsetzen übermütig geworden, fasste ich einen Entschluss: Rausgehen und eine Cola kaufen. Nicht irgendwo, sondern im Ringcenter II, dem ernüchterndsten Ort, den ich kannte. Dort würde ich unter den Sterblichen wandeln und Buße tun und schließlich den legendären Cola-Quell offenbart bekommen, der den Fluch des Durstes und der Übelkeit von mir nehmen sollte.

Mir war vielleicht nicht voll bewusst, auf welches Abenteuer ich mich einließ, wie weit und beschwerlich meine Wanderschaft werden würde. Doch hätte ich mich sonst unter Jammern und Klagen von der schweißfeuchten Matratze erhoben? Hätte ich mich mit der Wand als Halt bis zur Küche vorgearbeitet, dort nach einem Besenstiel gegriffen und mich mit dieser Stütze ins Treppenhaus vorgewagt, wo mich ein teuflischer Schwindel beinahe in die Knie zwang?

Inmitten des Schwindels tauchten die aufgedunsenen Gesichter von Hatschi und Monika wieder vor mir auf: „Ja, klar. Einer geht noch.“

Während ich mich ächzend am Geländer festklammerte, fiel es mir wieder ein: Das Jessner-Eck. Genau dort musste ich unverschuldet in ein volkstümliches Symposion geraten sein. Eine neue Welle ganzheitlicher Übelkeit schwappte durch mein Wesen. Dämonische Bilder von einer Polonaise im Schankraum und einem Engtanz mit einer Frau im Leopardenoberteil stiegen aus dem Dämmer meines Bewusstseins ins Licht und trieben mich die Treppe hinunter. Ich schaffte es auf den Hof. Ich schaffte es in den Hausflur. Ich schaffte es auf die Straße. Dort drosch mich die gleißende Wintersonne in die Hocke. Meine Netzhäute schwitzen, bis mir salzige Wasser aus den Augenwinkeln liefen. Kühn hob ich mein Haupt und blickte. Rund um mich herum erstreckte sich Beton in alle Richtungen, darunter surrende Kabel, röhrende Kanalwasser und kreischende Bahnen. Darauf trampelnde Menschen und Autos, die mit der Geschwindigkeit und dem Krach von Düsenfliegern das Viertel zerschnitten.

Entschlossen nahm ich meinen Stecken und wuchtete seine Spitze in den von Schneematsch bedeckten Boden. Ein Schritt war gemacht und bald ein zweiter. Als ich nach vielen Minuten einmal kurz aufsah, starrte mir ein Kind ins Gesicht. Sein Blick stürzte in meine Augen, meiner in seine, der eine dem Abgrund des anderen ausgeliefert. Das Kind wurde unter roter Bommelmütze blass und begann zu zittern. Ich zitterte ohnehin. Die Kälte war mein Kleid. „Ja, schau ihn dir nur gut an, den sauberen Herren, und präg es dir ein“, hörte ich eine mütterliche Stimme außerhalb meines eingeschränkten Sichtfeldes. Mutig setzte ich meinen Stab ein weiteres Mal auf.

Nach gut hundert Metern und einer Stunde stimmte ich einen Gesang an, der mir Kraft für meinen langen Marsch verleihen sollte.

Ich hatte den Kehrvers des schwedischen Doom-Metal-Songs vielleicht zum fünften oder sechsten mal geröchelt, als ich die Ecke Boxhagener/Neue Bahnhofstraße erreichte. Als stolzer Jagdfalke flog mein Blick die Schneise zwischen Friedrichshain und Lichtenberg hinunter, bis er in der Ferne in Wintergrau und Griesel das Ringcenter erahnen konnte.

Mochte das Cola-Eldorado auch nur eine Mär sein, ein Truggebilde, eine Phantasterei um die Unglücklichen zu trösten – ich würde mich aufmachen es dem Reich der Fabel zu entreißen, oder bei dem Versuch zugrunde gehen. Wie Moses würde ich das geknechtete Volk meiner entwässerten Hirnzellen in das gelobte Land von Zucker, Koffein und Kohlensäure führen.

Den Stecken mittlerweile mit beiden Händen haltend, durchmaß ich die Neue Bahnhofstraße wie der ewige Fährmann den Fluss des Leides. Ein harscher Wind kitzelte den ethanolhaltigen Schweiß meiner Brauen, Ungeziefer trieb seinen Schabernack an den Halmen meiner Haare, Krähenvögel umkreisten den schwarzen Wasserturm des Ostkreuzes, oder trieben von dort im Sturmwind zum Ringcenter herüber und stießen ihre verzweifelten Schreie in den dunkelnden Himmel.

Auf der Höhe eines Exerzierplatzes für Hunde fragte mich ein junger Mann in falschem Pelz, ob alles in Ordnung sei. Ich nickte grimmig, blieb aber nicht stehen. Ich war Tausende von Jahren alt, ich war die Stadt, die durch sich selbst ging und ich kannte mein Ziel. Künftige Generationen würden sich an Lagerfeuern mit leuchtenden Augen von meiner Wanderschaft zum Ringcenter erzählen, Epen würden gedichtet, Religionen gestiftet werden. Kafkas Schloss würde als trübsinniges Gleichnis in Vergessenheit geraten, während Nefts Ringcenter in den Herzen der Menschen als sehnsüchtig brennende Hoffnung fortdauerte. Was kümmerte mich da der Wunsch des jungen Mannes nach Plausch und Nettigkeit, oder mein eigenes Gefühl, beim nächsten Meter zusammenzubrechen und in einem Haufen aus Schnee und Hundekot zu verenden?

Es finsterte als ich unweit eines Bahnübergangs an splitterglitzerndem Bürgersteig die Gaststätte „Igel“ erreichte. Handbeschriebenes Papier hinter Fensterglas gab einen nützlichen Hinweis: „Wo schmeckt das Bier? Hier!“ Ich hielt inne. Gemächlich hob ich eine Hand bis zum Kinn und kratzte mir versonnen die Bartstoppel. Wieder suchten mich Erinnerungen heim: ich, wie ich „Lokalrunde“ brüllte, Hantiererei mit Tequila-Gläschen, die Frau im Leopardenoberteil an meine Seite gelehnt, eine nikotinsaure Zunge in meinem Mund, Phil Collins aus einer verschwommen blinkenden Kompaktanlage. Another day in paradise.

Ganz vorsichtig schüttelte ich den Kopf und sagte zu mir selbst: „Nein. Cola wirst du trinken. Aus der Flasche und im Ringcenter.“ Und, abermals meinen Gesang anstimmend, zog ich weiter.

Schließlich trennte mich nur noch eine vierspurige Straße vom wuchtigen Bau des Ringcenters, über dessen Kuppel fern und tonlos das Lichterspiel wetterleuchtender Blitze den Nachthimmel entzündete. An der Ampel sank mir der Kopf wieder in Richtung Brust und mein zu Boden gerichteter Blick fiel auf ein kleines Unkraut. Durch Winterkälte und Beton hatte es sich seinen Weg gebahnt, nur um nun ohne einen Gefährten der Witterung inmitten einer Asphaltwüste zu trotzen. Ich zitterte heftiger und fühlte Tränen im unteren Drittel meiner Augen aufsteigen. „Du liebes Kraut“, flüsterte ich. „Du guter, tapferer Halm.“

Es wurde grün. Keck leuchtete der im Gehen erstarrte Ampelmann. Schlurfend überquerte ich die Straße. Je näher ich der erlösenden Cola zu kommen schien, desto öfter sah ich mich zweifelnden Gedanken ausgeliefert: Was, wenn der schwarze Trunk nur ein abgeschmackter Abklatsch meiner mit jedem Schritt gewachsenen Sehnsucht sein würde? Was, wenn im Triumph die Trauer, am Ende des Weges die Verzweiflung auf mich wartete?

Doch schon stand ich auf jenem Marktgeviert, das zur Rechten von mausgrauen Säulen, zur Linken aber von der Bäckerei Ditsch, von Nordsee-, Subway- und McDonalds-Filialen gesäumt wird. Ein Huhn im Menschenkostüm kreuzte meinen Weg. Ein dicker Mann trug brutzelnde Würste auf rundem Rost vor prallem Bauch. Über mir erstreckten sich die stählernen Streben einer Dachkonstruktion, in deren mittlerer Leiste runde, kalte Lichtlein glommen. Am Ende des Lichterpfades sah ich über munter kreiselnder Drehtür die roten Lettern „Ring-Center 2“.

Zwar hätte ich mir auch am McDonald’s Tresen eine Cola kaufen können, doch hatte meine Vision eindeutig von Cola in einer Flasche, nicht in einem Pappbecher gekündet. Ich musste also durch die Drehtür. Das war allerdings leichter gedacht, als getan, denn die Vorrichtung drehte sich mit unerhörter Geschwindigkeit. Allein wenn ich dabei zusah, wie sich unerschrockene Berlinerinnen und Berliner auf der einen Seite in das Ungetüm hinein und auf der anderen heraus stürzten, wuchs meine Übelkeit. Auch machte mich die Betrachtung der Menschen trübsinnig. Besonders traurig wurde ich beim Anblick der Stiefel der Frauen: wulstig und abgewetzt, speckig und hässlich, wie um den Fuß herum wuchernder Pilzbefall.

Welche Regierung kann es zulassen, dass die Töchter des Landes in so elendem Schuhwerk einher gehen müssen, welcher Staatsdiener findet da noch Ruhe in der Nacht? Aber es half nichts. Das Lichtenberger Schuhproblem würde ich nicht lösen können, wenn ich mich nicht vorher an einer Cola erfrischte.

Entschlossen trat ich in den Kreisel und steckte sofort fest. Der Besenstiel musste sich verkantet haben, was den Menschen um mich herum Gelegenheit gab, ihrer ohnmächtigen Wut Luft zu machen. Beschimpfungen mischten sich mit hämmernden Schlägen gegen das Plexiglas, ohne dass sich sagen ließ, welche Kunden ärger tobten: Die, die unbedingt in das Ring-Center 2 hinein oder die, die unbedingt wieder heraus wollten. Ich sang leise mein Leid und wurde irgendwann in eine Passage ausgespieen, in der mich auf einer Fläche aus Friedhofsmarmor, ein mannshoher, zweidimensionaler Frauenkopf, falsche Pflanzen und bitterböse Menschen erwarteten.

“Wo hamse den denn rausgelassen?”, hörte ich einen sagen. Drei junge Männer standen vor mir und wirkten erregt. Gekleidet waren sie in schwarze Jacken, Palästinenserschals und Springerstiefel. Einer trug die Haare millimeterkurz, einer schulterlang, der dritte noch länger. „Ey, Alter, zieh dir mal was an!“, bellte der Kurzgeschorene. „Pass auf, der hattse nich alle“, sagte sein Nebenmann halblaut, die Augen auf mich gerichtet, wie auf einen zwar kleinen, aber ausgesprochen grell gefärbten Frosch.

Die Palästinenserschals erinnerten mich an das modische Beiwerk, mit dem meine Schwestern in den 80ern ihre politische Gesinnung ins Textile hatten gerinnen lassen. Beruhigt erkannte ich in den jungen Männern Linke, also letzten Endes Humanisten, wenn auch derben Zuschnitts.

„Lasst mich durch, Genossen!“, sagte ich mit großer Anstrengung. Erst jetzt bemerkte ich den wulstigen Pitbull an der Leine des Kurzgeschorenen. Aus verquollenen Augen glotzte mich die Missgestalt freudlos an.

„Ey, der tickt doch nich janz sauber!“, erhitzte sich der eine.   

„Ick jeb dir Jenosse, du Scheiße!“, sagte der andere und schlug mir ohne Vorwarnung in den Magen. Durch den plötzlichen Körperkontakt merkwürdig aufgemuntert, klappte ich nach vorne zusammen und gab endlich einer lang unter-drückten Regung nach. In großem Schwall erbrach ich mich auf den traurig guckenden Kampfhund. Dem ersten Strahl folgten weitere. Der Pitbull war bald kaum noch zu erkennen. Einzelne Bröckchen klatschten auch auf meine Füße, und erst jetzt sah ich, dass ich bloß Strümpfe trug. Während einer der merkwürdigen Linken anfing zu schluchzen, wanderte mein Blick die Strümpfe weiter hinauf und fiel auf zwei dünne, bleiche, mit Gänsehaut und schwarzen Haaren übersäte Beine.  

„Der hat Odin volljekotzt, boh, die Zecke hat Odin volljekotzt!“, wiederholte einer der jungen Männer wie ein Rosenkranzgebet, während der Hund seltsam still blieb.

Mit letzter Kraft richtete ich mich auf, jetzt im Bewusstsein nicht nur meiner ganzen trostlosen äußeren Erscheinung sondern auch eines Scheiterns, das mich erst vollends zum Menschen machte.

Auf den Besenstiel gestützt sah ich aus postapoka-lyptischen Augen auf die drei jungen Männer, wie sie sich um den besudelten Hund mühten. Ich hätte gerne gefragt, ob mir einer von ihnen etwas Geld für eine Cola borgen könnte, sah aber ein, dass mit den Halbstarken kein Staat zu machen war.

Langsam aber unbeirrt setzte ich wieder einen Fuß vor den anderen, diesmal zurück zur Drehtür, und hielt nur einmal kurz inne, als ein vermeintlicher Rülpser in einen weiteren Auswurf nun bitter schmeckender Galle überging.

Hinter mir war eine Schlägerei ausgebrochen, aber ich bekam kaum etwas davon mit, weil mich bereits die runde, von Plexiglaswänden unterteilte Kabine aufgenommen hatte.

Ich war gerade ins Freie gelangt, als mich jemand am Arm berührte. Eine Erscheinung in Bomberjacke und Tarnhosen, in der ich sofort einen übergewichtigen Rechtsradikalen zu erkennen glaubte.

„Ey Alter, echt korrekt, wie du die Nazischweine alle gemacht hast. Die mit ihren Tölen. Sach ma: frierste nich? Willsten Bier?“

„Cola“, hauchte ich matt.

„Hab ick nich im Programm, aber hol ick dir. Echt coole Aktion.“

Ich stand, wartete und merkte, dass ich fror, aber auf eine entrückte Weise. Nun fielen mir auch die Blicke der Passanten auf. Ich lächelte niedlich, bis mich das Gefühl beschlich, dadurch noch wahnsinniger zu wirken.

Der gute Bote tauchte tatsächlich wieder auf, in der Hand eine Flasche Cola. Ich dankte, nahm die Flasche gleichmütig entgegen und verabschiedete mich.

Beim Ampelhalm stellte ich die ungeöffnete Flasche ab und stand eine Weile andächtig da. Eine Woge weinerlichen Hangover-Heldentums trieb mir Tränen in die Augen. Plötzlich schien es mir, als vernähme ich die Stimme des kleinen Krauts. Es war so weit – die Stimme der Allnatur sprach durch diese betonsprengende Pflanze zu mir: „Du dummes Arschloch!“

Beschämt senkte ich den Kopf. Dann machte ich mich auf den langen Weg nach Hause.

 

 

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DER IRRE VOM RINGCENTER • Anselm Neft
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