In einem Trichter aus Licht

(Januar 2008)

 

Ich habe gehört, dass meine Zelle besonders komfortabel ist. Groß wie eine Zweierzelle, aber nur für mich. Eine vom Gang nicht einsehbare Toilette. Eine Duschkabine. Ein Tisch, ein Stuhl zum Fenster hin. Eine gute Aussicht. Bewaldete Hügel, über die nachts der Scheinwerfer zieht. Es gibt ein Kabinett für Habseligkeiten: Wäsche, die Bibel, Hefte, meine Fotos. Alles videoüberwacht und alles aus Materialien, mit denen man ihrer Ansicht nach niemanden verletzen kann. Eine Dusche wie meine ist teuer. Ich könnte kein Seil daran befestigen, wenn ich ein Seil hätte. Wenn man sich aufhängen will, reicht eine Befestigungsmöglichkeit auf Türklinkenhöhe. Aber es gibt keine Türklinke. Ob man sich mit Fotos die Pulsadern aufschneiden kann, bezweifle ich. Ich werde es nie versuchen. Das ist auch nicht die Sorge der Wärter. Die Zelle kann mit einem Schlauch schnell und einfach gereinigt werden.

 

Man kann sich die Zeit damit vertreiben, die Zelleneinrichtung auf ihr Verletzungspotenzial zu überprüfen. Ein bis zwei Tage von vielleicht 10.000. Bei mir ist lebenslänglich wörtlich gemeint. Das bekommen nicht viele. Einzelzellen bekommen zurzeit wegen Überbelegung auch nicht viele. Man hält mich von den anderen fern. Es gibt hier die gleichen Vorstellungen von richtig und falsch wie draußen. Die Leute töten sich auf tausend Arten. Manche davon sind erwünscht, manche geduldet und manche werden verabscheut. Meine Art fällt in die letzte Kategorie. Das ist in Ordnung. Ich muss nicht gemocht werden. Ich diskutiere auch nicht, was gut oder was böse ist. Von mir aus haben alle Recht. Ich meine nur: Schmerz wird überschätzt. Der starke hält nie lange an, und er ist nur eine Art sich selbst zu fühlen.

 

Ich habe ein paar von den Zeitungsberichten gelesen. Ich sei unfähig, die Schmerzen anderer nachzuvollziehen. Keine Ahnung, wie sie darauf kommen. Wenn ich irgendetwas nachvollziehen kann, dann sind das die Schmerzen anderer. Sonst hätte ich ja Puppen nehmen können. Jetzt habe ich nicht einmal Puppen.

 

Der Trick besteht darin, sich alle Einzelteile so genau vorzustellen, dass sie von den Körperteilen eines wirklichen Menschen nicht zu unterscheiden sind. Am Ende fügt man sie zusammen und lässt sie frei. Manche Bildhauer behaupten, dass sie nicht eine Figur in den Stein schlagen, sondern eine Figur aus dem Stein befreien. Vielleicht ist es bei meiner Arbeit genauso: Sie ist gar keine Schöpfung sondern eine Entdeckung.

                                                                         

Das Wesen hat seine eigenen Gesetze: Ich wünsche mir eine schmale, unauffällige Nase, aber was ich sehe, wieder und wieder und immer deutlicher, ist eine lange Nase, die das Gesicht in zwei Hälften teilt auf eine fast grobe Weise. Ich stelle mir die Nasenlöcher vor, den rötlichen Rand, die kleinen pickligen Erhebungen, aus denen feine, schwarze Härchen wachsen. Ganze Abende und Nächte verwende ich auf die Augen. Erst auf das linke, dann auf das rechte. Sie sind sich nicht gleich. Ich stelle mir nicht nur die schwarze Iris und die noch schwärzere Pupille vor, sondern auch jeden Ausdruck, der  schon darin gestanden hat.

                                                                         

Es ist eine Frau. Wenn ich es mir aussuchen konnte, waren es immer Frauen. Sie ist eine Asiatin, wie meine Erste. Sie ist nicht käuflich. Ich erfinde ihr ein Leben. Von der Geburt bis zum 22. Lebensjahr. Es ist aufwendig, ein 22 Jahre altes Leben zu entwerfen, aber keinesfalls unmöglich. Am Anfang einer solchen Arbeit unterschätzt man die Vielzahl der Möglichkeiten, dann überschätzt man sie, schließlich stellt sich heraus, dass Menschen vielschichtig, aber nicht überwältigend komplex sind. Gute Kopien können angefertigt werden.

 

Ihre Haare sind schwarz, aber nicht dünn und glatt. Sie liegen um den Kopf wie eine Kapuze. In diesen Haaren ist eine knisternde Kraft, über die ich viele Nächte meditiere.

 

Die Übungen, die ich mache, sind anstrengend. Solche Manipulationen erfordern einen Willen, der wie eine große Flamme ist. Egal was man hinein wirft: Es wird auch zu Feuer. Die Schritte auf dem Korridor oder der gusseisernen Treppe. Das Fluchen und Wimmern von nebenan – nichts darf mich ablenken.

 

Ich verwende sehr viel Mühe auf die Schamhaare, auf die inneren und äußeren Schamlippen. Die Klitoris. Ich kann sie nicht nur sehen. Ich kann sie riechen, fühlen und schmecken und das Geräusch hören, das sie macht, wenn sie gerieben wird. Ich denke mir ihre Träume aus. Manchmal fällt mir nicht das Geringste ein, manchmal kann ich vor Einfällen die ganze Nacht nicht schlafen.

 

Der Mund ist voll und rot, mit einer Unterlippe doppelt so dick wie die Oberlippe. Ich würde ihn nicht sinnlich nennen. Ich würde die ganze Frau nicht sinnlich nennen. Mich interessieren sinnliche Frauen nicht. Ich kann Sex mit Frauen haben, die Sex mit mir haben wollen, aber genauso gut kann ich ohne Durst ein Glas Wasser trinken.

 

Sie ist Jungfrau und würde es am liebsten für immer bleiben. Ihre Haltung ist ein bisschen geduckt. Die Schultern sind hochgezogen. Geschlagen worden ist sie aber nie.

 

Wenn ich die Augen schließe, kann ich sie nun fast immer riechen. Nachts im Traum steht sie in einem blauen Morgenmantel neben meinem Bett und schaut zu Boden. Die Träume sind der Anfang. Von dort ist es kein allzu großer Schritt. Ich kenne ihren Körper bereits besser als irgendetwas sonst. Mein eigener Körper ist dagegen diffus.

 

Erst ganz zum Schluss gebe ich ihr einen Namen. Ich spreche ihn laut aus. Sie wird die Beweglichkeit und das Fließende eines Traumwesens aufgeben, um Wirklichkeit zu werden. Ich habe beobachtet, dass die Ideen danach streben, wirklich zu werden.

 

Die Tür zum Sanitärraum geht ohne mein Zutun auf. Ich muss mich nicht darauf konzentrieren. Durch das Zellenfenster fäll das Licht des Scheinwerfers und zeichnet einen Trichter auf das Linoleum. In diesen Trichter greifen ihre Hände. Auf allen Vieren, den Kopf gebeugt, zieht sie sich Stück für Stück in mein Zimmer. Ihr Körper ist jung, nackt und ohne Begehren. Für einen Augenblick bekomme ich Angst. Ich kann sie wieder in die Einzelteile zerlegen, aus denen ich sie geschaffen habe, und Stück für Stück im Klo entsorgen, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie wiederkommen wird. Immer wieder. Auf allen Vieren. Im Licht des Scheinwerfers, den ich nicht ein- und nicht ausschalten kann.

 

 

Download
IN EINEM TRICHTER AUS LICHT • Anselm Neft
In einem Trichter aus Licht.pdf
Adobe Acrobat Dokument 26.7 KB