Schweinsnacht

(erschienen in "Das ist ja wohl der Horror", hrsg. von Marcus Gärtner, Rowohlt 2017)

 

Okay, ich erzähle euch die Geschichte noch einmal. Mike erzählt sie mir ja auch immer wieder, wenn ich ihn auf der „Geschützten“ besuche. Hört zu: Dort, wo die Wälder sind – städtegroß, wo die Sümpfe und Hügel sind – traumverloren, wo jede Abkürzung ein falsches Versprechen ist und jede Ortschaft eine Kulisse, in der die Jungen auf Mofas im Kreis fahren, die Mittelalten die Böden mit Gift tränken und die Alten hinter den Gardinen lauern, alle taub für das Flehen eines Schweins und blind für die Schönheit eines Fuchses – genau dort ist es vor sieben Monaten passiert.

 

Vor sieben Monaten – da war Mike noch Sänger und Gitarrist von Grand Guignol, und Grand Guignol haben richtigen Heavy Metal gespielt. Und wenn ihr jetzt denkt, was ist das denn für ein französischer Scheißname, dann muss ich euch sagen: langsam Freunde. Grand Guignol nannte man früher in Paris so ein Splatter-Theater mit viel Blut und Eingeweiden und Axtmördern und Werwölfen und Frauen, die ihre Kinder vergiften. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust ging das dann mit dem Theater irgendwie nicht weiter. Aber Ende der Siebziger kam ja der Heavy Metal, und Mike hat schon Recht, wenn er da auch eine Fortsetzung der Tradition sieht.

 

Grand Guignol, also die Band, kamen aus Euskirchen und haben Thrash gespielt, mit ein paar Black-Metal-Einflüssen. Aber im Gesicht angemalt haben die sich nicht und auch nicht ständig über Odin und die Schönheit nordischer Landschaften schwadroniert. Krasse Texte hatten sie allerdings, das schon. Ich meine, die haben jetzt nicht über Alltagsscheiße gesungen. Also, dass du dich in der Kleinstadt langweilst und vielleicht nie einen erträglichen Job findest und dich ständig fühlst, als würde entweder mit dir oder der Welt etwas nicht stimmen, und zwar von Grund auf, und das schon, bevor deine besten Kumpel bei einem Autounfall draufgegangen sind. So was nicht. Sondern es ging in den Texten um die „Black Witches“, den „Cult of the Zombiewolf“, die „Baroness of  Slaughter“ oder den „Reanimator“.

 

Die Pseudonyme bei Grand Guignol sind noch voll Achtziger gewesen. Denn in den Achtzigern konnte man die Leute mit Heavy Metal noch schocken. Da wollte deine Tante noch nicht mit nach Wacken, um mit dir ein bisschen zu Motörhead zu schunkeln. Mike, also Michael Flessing, nannte sich Jason, und die Gebrüder Küpper hießen eigentlich Thorsten und Sven, bei Grand Guignol aber Freddy und Leatherface. Die Küppers waren ziemliche Brocken mit dunkelblonden, immer gepflegten Matten. Wie das bei so kräftigen Typen oft der Fall ist, waren die ziemlich lieb. Thorsten, also Freddy, hat Kindergruppen für die evangelische Gemeinde betreut und eine Freundin gehabt, die an Gott glaubte. Und Sven, also Leatherface, hatte schon eine Lehre als Tischler hinter sich; er wollte irgendwann einen eigenen Betrieb aufmachen. Freddy hat bei Grand Guignol Bass gespielt und Leatherface Schlagzeug. Und jetzt braucht ihr nicht lange raten, wer bei Grand Guignol das Sagen hatte, denn in einer guten Metal-Band kämpfen die Gitarre und der Gesang immer darum, wer lauter ist, dadurch kommt die Dramatik in den Metal. Da war jetzt also Jason für die Dramatik alleine verantwortlich. Die Küpperbruder waren ja auch zu bodenständig und lieb und geduldig. Klar, gesoffen haben die auch gerne, aber nicht wie Jason alle möglichen Substanzen geschmissen, Chemie oder Natur – scheißegal. Wie auch immer: Grand Guignol waren echt heavy und Jason der Frontmann überhaupt. Der hatte einfach den Metal im Blut. Dünne, schwarze Haare fast bis zum Arsch, Akne, stechender Blick – der Jason sah schon so ein bisschen zum Fürchten aus. Aber auf der Bühne, wenn er sich das Gesicht von unten anleuchten ließ und auf so eine bestimmte Weise hochguckte – Alter!

 

Grand Guignol haben natürlich nicht nur geprobt und Konzerte gespielt, sondern auch ein Demo aufgenommen, „Season of the Reaper“, und das wollten die fett produzieren lassen, bei Bob „Steelpriest“ Naumann, dem Metalproduzenten der Region. Bob meinte: „Ja, endgeil, kommt vorbei, wie wär’s Karfreitag?“ 

 

Jetzt wohnte der Steelpriest mitten in der Eifel, in Muldenau. Der Ort hieß früher Pissenheim und davor Schweinheim. Ernsthaft. Das hat Jason später recherchiert, denn nach dieser Nacht interessierte er sich plötzlich sehr für die Volkskunde der Eifel, und was er darüber erzählen kann, das ist wirklich ultrakrass. Muldenau ist von Euskirchen nicht weit weg, also Luftlinie. Aber du weißt ja, wie das mit der Eifel ist. Da blickst du nicht durch, und dann das Dosenbier im Auto – da hat sich natürlich sogar Leatherface verfahren. Schweinheim, Kuchenheim, Ludendorf, Stoitzheim, Froitzheim, Flamersheim und plötzlich wieder Kuchenheim. Und weil die spät losgefahren sind, war es dann fast Abend, bis sie in Muldenau angekommen sind.

 

Muldenau müsst ihr euch so vorstellen: eine Senke im Wald, mittendrin eine Landstraße und links und rechts davon das Dorf. Deshalb auch das Mulde in Muldenau. Aber Jason meint, es komme von „Muttersau“, auch wenn er das nicht beweisen könne. Egal. Ziemlich in der Mitte steht die Kirche, mit hohen, bunt bemalten Fenstern, und der schwarze Glockenturm hat so ein spitz zulaufendes Dach – ganz old school. Der Platz bringt die Kirche gut zur Geltung. Jason meint, wie ein Drache, der sich schlafend stellt, alt und lauernd. Rundherum kauern Fachwerkhäuser, aber auch diese Häuser, die bis auf Kniehöhe fies gekachelt sind und bei denen du denkst, die sind auch innen voll verkachelt. Wenn sich da einer erschießt, muss man hinterher den Raum bloß mit einem Schlauch sauber spritzen. Und dann gibt es auch zwei, drei richtig große, moderne Häuser mit viel Glas, wo du den Leuten ins Wohnzimmer gucken kannst. Ansonsten aber, ihr wisst schon: Namensschilder aus Salzteig und Sprüche auf den Fußmatten oder Häusergiebeln, und an einem Haus eine Wäscheleine mit Babysachen und ein Storch aus Pappe am Fenster. Jetzt sind da aber noch mehr Dekorationen gewesen: Über der Straße hingen Girlanden mit bunten Papierblumen, und dazwischen baumeln Schweinefüße oder so was. Und auf die Toreinfahrten und Scheunen haben die Dorfbewohner mit Kreide Zeichen gemalt, so verschnörkelt wie von einem Black-Metal-Platten-Cover. Jason erinnert sich vor allem an die Zeichnung von einem irgendwie menschenartigen Schwein auf einem Thron mit so einer Bischofsmütze. 

 

Jason, Freddy und Leatherface parken also an der Kirche, steigen aus und sehen, dass da auch alles dekoriert ist: Fähnchen, Blumen, Schweinefüße. Die drei stehen da und gucken sich das an, und in dem Moment kommt ein Mädchen aus der Kirche heraus. Das Mädchen -geht geradewegs auf sie zu, sieht super aus, stinkt aber tierisch – nach Jauche, nach verdorbenem Fleisch, aber auch noch nach etwas, was Jason immer wieder neu zu umschreiben versucht. Egal. Das Mädchen geht also auf die drei zu und trägt ganz normale Kleidung und ist auch nicht dreckig, obwohl sie stinkt. Die Küpperbrüder tun so, als riechen sie nichts, aber Jason rümpft die Nase und schüttelt den Kopf. Das Mädchen lächelt ausgerechnet Jason an und sagt zu ihm „Hallo“.

 

Jason sagt auch „Hallo“ und fragt sie nach Bob Naumann, und das Mädchen so: „Klar, der ist gerade bei uns. Mein Vater ist hier der Bürgermeister. Komm mal gerade mit. Ja, erst mal nur du, das ist meinem Vater sonst zu viel.“ Die Dorfschönheit wirft ihre blonden Haare zurück und lächelt, als ob alles okay wäre, und hat dabei so ein Gesicht wie in der Reklame für Shampoo. Und die Küpperbrüder schauen sich nur an, meinen „okay“ und freuen sich aufs nächste Bier in der milden Abendluft. Die haben halt generell die Ruhe weg.

 

Jason also mit dem Mädchen los. Da hätte ich schon was geahnt. Da hätte ich schon gedacht: Hier stimmt was nicht, und man trennt sich als Gruppe jetzt mal besser nicht. Weiß man doch. Aber du darfst auch die Umstände nicht vergessen, Punkt 1: den ganzen Weg Dosenbier, da bist du schon matschig im Kopf, wenn du in Muldenau ankommst. Punkt 2: das schöne, aber stinkende Mädchen. Da machst du Fehler.

 

Jason hat nachher erzählt, das Mädchen sei fröhlich gewesen, aber immer auch so ein bisschen kühl, so wie das sexy ist. Das muss man draufhaben als Frau, so zu gucken, als sei man nicht zu haben, aber vielleicht doch, und dabei nicht zu lebendig wirken, mehr wie ein Filmstar. Jason atmet also nur durch den Mund, und sie erzählt etwas von einer Schweinsnacht, die heute ist, weil der Heiland tot ist. Und weil der Heiland und Gott und der Heilige Geist eins sind, sind Gott und der Heilige Geist auch tot. Deshalb kann Gott bis zur Auferstehung nichts sehen. Keine Sünden. Da kannst du also machen, was du willst, und jetzt regieren wieder die alten Mächte. Das sagt das Mädchen und sieht dabei Jason in die Augen. 

 

Das Haus von ihrem Vater ist ein toprenoviertes Bauernhaus, und davor steht so ein Riesenjeep. Cherokee. Und das passt, denn innen sieht das Haus halb voll modern aus und halb indianermäßig. Das kann man jetzt nicht gut beschreiben, aber in einem großen Raum ganz aus Holz hockt der Bürgermeister auf mehreren Bärenfellen im Schneidersitz in einer Runde halbnackter Männer und zieht an einer langen Pfeife, und an der Pfeife hängen Federn, und das erste, was der Bürgermeister zum Jason sagt, ist: „Für jede gute Tat im Dorf eine Feder. Man wird nicht einfach so Häuptling. Du musst die meisten Federn haben.“ Das versteht Jason sofort, denn der ist ja auch Bandboss, weil er am meisten für Grand Guignol tut.

 

Der Bürgermeister ist aufgeschwemmt und freundlich gewesen, mit kurzen, grauen Haaren und schlau blitzenden Schweinsaugen, so ein Managertyp, und der ist dann früher auch tatsächlich Manager gewesen. Motorola. Dann ist er aber wegen Burn-Out ausgestiegen und hat sich selbst in der Eifel gesucht und in der Schwitzhütte bei der dritten Tür den Ruf bekommen: Du wirst jetzt Häuptling von Muldenau. Da hat der Jason schon gemerkt, das wird heute vermutlich nichts mehr mit den ersten Aufnahmen von „Season of the Reaper“. Er hat das auch nur kurz angerissen und gefragt, wo denn Bob Naumann ist, aber zugehört hat ihm keiner, und die Tochter hat schon ziemlich bald erklärt, Jason ist ihr Bräutigam in der Schweinsnacht, denn als sie aus der Kirche kam, war er der erste Mann, den sie gesehen hat.

 

Der Bürgermeister nickt und sagt: ein Fremder, das wär klar, was das heißt. Und die Tochter nickt auch. Jason steht nur da. Aber der Bürgermeister ist ganz freundlich und meint: „Hier, hock dich zu uns auf die Felle. Schau dir mal die Decke an.“ 

 

Jason schaut hoch und sieht: Die Decke ist vollgemalt mit Symbolen. Also die Himmelsrichtungen und in der Mitte noch so ein Zeichen, das sollte die Leere darstellen. Da hat Jason also hochgeguckt und an der Pfeife gezogen, und ich sag jetzt mal: In der Pfeife ist nicht nur Tabak drin gewesen. Die Dosenbiere, die Aufregung, dann noch die Pfeife – klar, dass Jason in der Erinnerung ein bisschen durcheinander kommt und behauptet, es hätte auf einmal wie im Schweinestall seines Onkels gerochen. Auf jeden Fall hat er sich plötzlich reingesteigert in die Sache mit dem Bräutigam. Volles Risiko. Heavy Metal halt.

 

Als sie endlich aufbrechen, dämmert es schon und Jason sieht die Farben total intensiv und alles so ultra-plastisch, krasser als heute in High Definition. Draußen ist das ganze Dorf auf den Beinen. Die Leute sehen eigentlich ganz normal aus, in Outdoorjacken und Jeans, mit Turnschuhen oder diesen Goretex-Latschen, Pullover, auf denen was draufsteht, oder Damen-T-Shirts mit Glitzer, und so Kindergärtnerinnen mit gefärbten Dorffrisuren und auch zwei Heavys dabei. Die einen sind schon Ökos, die anderen noch echte Bauern. Es sind aber zum Beispiel auch so Lehrertypen mit am Start, die das nervlich nicht aushalten, wenn sie nach Schulschluss nicht wegfahren können aufs Land. 

 

Alle machen eine Gasse für den Jason und die Dorfschönheit und singen dabei, als ob sie nicht ganz richtig im Kopf sind: ein Durcheinander von ganz alten deutschen Liedern, aber im Indianer-Style, da hätte sich der Jason auch entrückt gefühlt, ohne vorher an der Pfeife gezogen zu haben. Es gibt einen richtigen Spielmannszug mit diesem großen Glockenspiel, das man hochkant hält, aber auch Trommeln, die du mit der Hand spielst, und ein paar Trompeten. Männer, Frauen, Kinder: alle singend in die Kirche. Klar, die haben da in Muldenau nicht viel Abwechslung, da gibt‘s ja kein Kino, keinen CD-Laden oder so ein Spielecenter oder zum Beispiel Bowling, was weiß ich, aber dass die gleich so kollektiv abgehen – krass. 

 

In der Kirche hat Jason nicht schlecht gestaunt. Nicht nur wegen der Deko, also auch in der Kirche Schweinefüße und alles, sondern auch weil da die Küpperbrüder nackt kopfüber von der Decke hingen, und wie gesagt: beide ganz schöne Brocken. Unter dem Freddy stand etwas, das aussah wie eine Mischung aus Wassertank und Tabernakel, also das Ding, in dem die Katholiken den Leib Christi zwischenlagern, und der Jason wusste schon – das ist ein Häcksler. Das Kreuz hatten die Dörfler abgehängt, man sah noch die helleren Spuren, wo’s gehangen hatte. Und die Heiligenfiguren in den Ecken trugen Schweinsmasken aus Modelliermasse und riesige Penisse oder Scheiden aus Fimo. Links vom Altar stand ein Thron aus alten Metallresten und darauf saß ein riesiges menschenähnliches Schwein aus Wachs mit dieser Mütze wie auf der Zeichnung. Leatherface hing da von der Decke –der hat mit dem Gesicht fast das Wachsschwein berührt.

 

Jason ist zwar tierisch bedröhnt, hat aber schon mitgekriegt, dass die Situation nicht optimal ist. Ein Wahnsinnsgedränge. Und die Leute sind gar nicht andächtig sondern mehr so im Karnevalsmodus. Und die Trommeln und Trompeten und das Hochkant-Glockenspiel –  als ob Irre Musik machen würden. Dazu das Gesinge: Hejaho, Hejaho. Ein Typ, der aussieht wie Reinhard Mey, brüllt so laut, dass ihm die Halsschlagadern richtig dick werden.

 

Der Bürgermeister geht die vier Stufen hoch zum Altar, dreht sich um und hat auf dem Kopf diesen Häuptlingsfederschmuck. Seltsamerweise sieht das gar nicht albern aus. Er macht ein Zeichen und die Leute werden still. Er erzählt so Sachen wie Gott ist tot und Schweinsnacht und Bräutigam und Fremde und Opfer für die Muttersau von Muldenau. Soviel versteht Jason, und spätestens jetzt ihm klar: Hier geht es um Leben und Tod. Die Tochter und Jason werden dabei die ganze Zeit von allen Seiten mit Körnern beworfen. Lange redet der Bürgermeister nicht, dann klatscht er in die Hände, und zwei Jungen in Latzhosen schleppen einen Bottich neben den Altar, der ist randvoll mit einer richtig perversen Paste. Jason flüstert der Tochter ins Ohr: „Ich will nicht sterben.“ Und die Tochter flüstert zurück: „Nimmst du mich mit?“ Und da sagt Jason: „Dich nehme ich überallhin mit, Baby.“ Bei so was ist der Jason souverän.

 

„So, ihr Lieben“, ruft der Bürgermeister, „jetzt ziehen sich alle aus“, und fängt selbst an, sich auszuziehen. Jung, alt, dick, dünn – egal: alle runter mit den Klamotten. Die Dorfschönheit hilft dem Jason, und das hätte erotisch sein können, ist es aber nicht, wegen den Umständen. Der Freddy und der Leatherface schaukeln an der Decke und rundherum sind jetzt nackte Leute. Draußen wird es schon dunkel, drinnen brennen Kerzen und Fackeln, und du siehst das Licht unruhig über das nackte Fleisch tanzen. Jason behält die Nerven und sagt beim Ausziehen zu dem Mädchen: Hier mein Wagenschlüssel, versteck den. Ist ja klar, wo der Jason denkt, dass die den versteckt, und wundert sich total, als er was Kaltes zwischen den Pobacken fühlt, und zack ist der Schlüssel fürs Auto im Arsch vom Jason. 

 

Die meisten Leute sind ziemlich schnell nackt, nur bei den ganz Kleinen und bei den Alten dauert es länger, da muss teilweise geholfen werden. Die Ersten fangen schon an, sich mit der Paste einzuschmieren, unter den Achseln, auf den Augenlidern und zwischen den Beinen. Manchmal gegenseitig. Und dabei fangen sie an zu quieken und zu grunzen, da hättet ihr Schiss gekriegt. Der Bürgermeister sagt, jetzt ist Hochzeit, und die Tochter ist die Erde und der Jason ist der Himmel und soll über ihr sein und auf sie regnen, und das Ganze auf dem Altar. Um den Altar herum und in der ganzen Kirche die Nackten. 

 

Leatherface hat mittendrin plötzlich losgebrüllt, aber nach etwa einer Minute wieder aufgehört. Die Tochter hat sich nackt auf den Altar gelegt. Wenn du vorher schon dachtest, das ist laut in der Kirche, dann hättest du jetzt mal hören sollen, wie alle gleichzeitig dieses hejaho angestimmt haben. Aber es klang jetzt gurgelnder, gepresster. Damit das an den Knien nicht wehtut, hat Jason mehr so Liegestütze auf der Frau gemacht, und dabei hat sie ihm ins Ohr geflüstert: „Auf drei runter vom…hejaho…du linke und ich … hejaho … Kette … hejaho … aus Bodenhaken … hejaho … dann hoch zum Fenster … hejaho … du ab nach draußen.“

 

Jason hat genickt, und schon hat das Mädchen „drei“ gerufen. Beide runter vom Altar und zu den Ketten, wo jeweils an einem Ende ein Küpper hing, und das andere Ende an einem Eisenring im Boden. Die Dorfschönheit macht den Haken im Eisenring bei der Kette vom Leatherface los und saust mit der Kette ab nach oben, während Leatherface nach unten kracht. Jason macht das Gleiche beim Freddy, aber da gibt es ein Problem: Freddy fällt nicht auf den Boden, sondern in den Häcksler. Eigentlich nicht so schlimm, aber einer von den irre grunzenden Latzhosen-Typen schaltet sofort das Ding an. Jason also schon auf halber Höhe, da gibt es einen Ruck. Die Kette bewegt sich plötzlich nicht mehr, dann gibt es wieder einen Ruck, die Kette rutscht mit Jason ein Stück nach oben, dann wieder Stillstand. Jason meinte später: Wenn dein Freund Stück für Stück in einem Häcksler verschwindet und sich dann nur noch seine Beine im Kreis drehen und schubweise kürzer werden, dann ist das echt übel, aber irgendwie hast du auch Distanz dazu, eben weil‘s so extrem ist. Wozu du keine Distanz hast, ist dieses Gefühl in den Händen, wenn die Kette darin stockt und dieses Geräusch, als ob jemand volle Kanne mit dem Rasenmäher über eine dicke Wurzel fährt. 

 

Jason und Leatherface sind jetzt hellwach und voll pragmatisch. Überlebenstrieb. Und die Muldenauer flippen total aus. Alle quieken und grunzen durcheinander, winden sich, verrenken die Glieder oder gehen auf alle Viere. Jetzt alles simultan: Leatherface reißt an seiner Kette. Die Dorfschönheit fällt zu ihm runter. Er nimmt sie in den Schwitzkasten, als Geisel quasi. In der Nähe ist die Tür zur Sakristei, und dahin will Leatherface und dann raus aus der verdammten Kirche. Jason ist auf der anderen Seite des Altarraums gut drei Meter in der Höhe und tritt  mit den Fußsohlen gegen das Kirchenfenster. Das Glas bricht, aber das Fensterkreuz nicht, klar, und Jason also die Beine zusammen und rechts unten durch den gesplitterten Teil der Scheibe. Das Glas schneidet ihm die nackten Arme und Beine auf, dann fliegt er durch die Äste von einem Baum und knallt neben der Kirche auf den Boden, und zack: Arm gebrochen. Er merkt das aber gar nicht. Endorphine halt. Beim Laufen checkt er ganz nüchtern: Okay, der Arm ist hin. Egal. Weiter. Auf dem Parkplatz ist Jason schon, und das Auto steht keine hundert Meter entfernt. Leatherface und das Mädchen sind nicht zu sehen, und Jason freut sich, dass er den Schlüssel hat. Mit zerschnittenen Füßen humpelt er zum Auto, da kommen die ersten Muldenauer aus der Kirche, und jetzt hättet ihr euch gefragt: Ach du Scheiße, was ist denn mit denen? Da war was mit dem Licht, also Mond und Parkplatzlaternen und Fackelschein aus dem Inneren der Kirche, und da war was mit den Bewegungen und mit den Geräuschen, weshalb Jason heute meint, das waren keine Menschen mehr. 

 

Jason handelt sofort, zieht sich den Schlüssel hinten raus und schafft die letzten Meter bis zum Auto. Da springt ihn das erste Etwas an, ein kleines Wesen, bei dem du die Rippen zählen kannst, und da tritt Jason rein, aber das magere Ding lässt nicht locker. Jason hebt gerade noch rechtzeitig das Knie, reiner Reflex, und da ist Wucht dahinter, wegen dem Adrenalin. Es kracht, und ihr könnt euch schon denken, der Kiefer ist gebrochen, und wenn du jemand beißen willst, aber dein Kiefer ist gebrochen, dann hast du schlechte Karten. Und dann sieht es Jason: Im weit geöffneten Kirchenportal erscheint ein richtig großes Vieh mit Häuptlingsschmuck auf dem Kopf, und die Augen von dem Vieh blitzen gelb und böse und haben den Jason im Visier, dann galoppiert es los. 

 

Jason ist sich sicher: Wäre nicht Leatherface angerannt gekommen, von hinter der Kirche und mit einer Kettensäge in der Hand – ich meine, warum soll in der Sakristei einer Kirche, in der ein Häcksler steht, nicht eine benzinbetriebene rumliegen – also, Jason meint, wäre der Leatherface nicht angelaufen gekommen –, das wäre sein Ende gewesen. Denn kurz steht er im Blick des Riesenschweins, wie paralysiert, und schon wuchtet sich das Wesen auf den Jason und wühlt mit seiner beweglichen Schnauze in seinem Gesicht. Jason spürt die spitzen Zähne an seinen Lippen zutzeln, er schlägt mit dem Arm, der nicht gebrochen ist, aber das Schwein ist schwer, stark und zu allem entschlossen. Hinter dem Schnorcheln und Schmatzen und Rüsseln hört Jason das Knattern der Kettensäge. Dann hört er es nicht mehr, weil ein lautes Quieken ihm fast das Trommelfell zerreißt. Der nackte Küpper liegt plötzlich neben ihm, die Arme mit der Kettensäge ausgestreckt und es knattert und röhrt und glibbert und regnet Eingeweide, literweise Blut und Eingeweide. Die Därme des Schweins ringeln sich wie Schlangen um den Arm vom Jason, der wild herumfuchtelt, und dabei pfeift es aus diesen viehischen Röhren, und dann bricht das ganze riesige Schwein über Jason zusammen.

 

Begraben unter Fett und Blutmatsch. Er bekommt keine Luft mehr. Dann die Hand, und Leatherface zieht ihn raus. Die beiden wollen zum Auto laufen, aber Leatherface rutscht auf den glitschigen Schweineeingeweiden aus und fällt mit dem Gesicht in die Kettensäge und das Sägeblatt kommt am Hinterkopf raus und das Gesicht vom Leatherface teilt sich in einer roten Fontäne. Und von da an sieht Jason alles nur noch in Zeitlupe und hört nichts mehr.

 

Ich könnte jetzt ausführlich erzählen, wie Jason mit dem Auto durch das Rudel Muldenauer Werschweine gebrettert ist und echt bald die Scheibenwischer gebraucht hat, aber ich will nicht den Eindruck erwecken, ich suhle mich hier in Gewaltdarstellungen. Jason ist davongekommen. Die Küpperbrüder sind es nicht. Das ist mal Fakt. Richtig weit gekommen ist Jason aber auch nicht. Der war kaum auf der Landstraße, da ging es durch ein Stück Wald, und plötzlich taucht etwas im blutverschmierten Scheinwerferlicht auf. Ein nacktes blondes Mädchen mitten auf der Straße, aber das Gesicht nicht menschlich. Ihr wisst schon. Jason hat sich so erschrocken, dass er voll gegen einen Baum geknallt ist. Er war aber nicht bewusstlos. Und jetzt ist es plötzlich bis auf das Motorengeräusch ganz still. Und Jason ist nackt und hat den Arm gebrochen und Schnittwunden und Kopfschmerzen vom Aufprall, aber er spürt das alles nicht. Wie in Trance steigt er aus und guckt auf die Straße und dann in den Wald, sein Blick folgt dem Licht der Scheinwerfer. Da steht jemand zwischen den Stämmen und ruft leise. Und dieses Rufen nistet sich in Jasons Herz ein. Für immer. Auch wenn es gar nicht ihm gilt, sondern der Mutter. Und ab da weiß Jason nichts mehr. 

 

Jetzt könnt ihr natürlich sagen: Jason war mal wieder total zugedröhnt und ist gegen einen Baum gefahren, nachts auf der Landstraße, und die Gebrüder Küpper sind tot und Jason lebt, ist aber nicht mehr ganz richtig im Kopf und sitzt im Marien-Hospital und raucht. Klar. So stand es auch in der Zeitung. Aber mal ehrlich: Was ist das für eine Scheißgeschichte? Zwei Neunzehnjährige gehen einfach so drauf, und der dritte ist auf was Krassem hängengeblieben. Eine echt gute Metal-Band, und dann einfach bumm gegen einen Baum, ohne Sinn und Verstand. Das ist echt nicht cool und darüber hätten Grand Guignol auch nie einen Song gemacht. Deshalb glaube ich Jason, auch wenn er immer eine etwas andere Version erzählt. Ich finde die Geschichte mit dem Schweinekult viel besser, und jetzt mal Wahrscheinlichkeit hin oder her: Von dem, was die Leute bei uns im Ort so Wirklichkeit nennen, wird auch keiner mehr lebendig.  

 

 

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SCHWEINSNACHT • Anselm Neft
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