Grausame Geilheit

(erschienen auf ZEIT-Online, 25.03.2018)

 

Aufgeklärt wurde ich durch Pornofilme. Meine Eltern dachten vermutlich, die Schule sei für die "sexuelle Früherziehung" zuständig. Dort wiederum dachte man wohl, das sei Elternpflicht. Schließlich übernahm Pornografie diese Aufgabe. 

 

Natürlich hatte ich schon vorher bemerkt, dass es mit den verblüffend unterschiedlichen Geschlechtsorganen von Jungen und Mädchen eine geheimnisumwitterte, skandalträchtige, gleichzeitig faszinierende und zutiefst peinliche Bewandtnis hatte: Als ich sieben Jahre alt war, Anfang der Achtziger, zeigte mir ein Mädchen aus der Nachbarschaft bei sich zu Hause ihre Scheide. Ihre Mutter kam herein, schimpfte sehr böse und schlug das Mädchen auf den nackten Hintern. Was ich eben noch als interessant, aber unschuldig erlebt hatte, erschien mir nun sehr interessant, aber kompliziert. 

 

Als ich neun Jahre alt war, erfuhr ich durch eindeutiges Bildmaterial, was ich mir unter Masturbation bei Männern und bei Frauen vorzustellen hatte, und nicht viel später sah ich ein Foto, auf dem ein Mann sein Glied in die Scheide einer Frau steckte. Dieses Bild verfolgte mich eine Weile. Es lag etwas Rohes, Aufreizendes und zugleich Befremdliches in dem Akt. Einige Kinder in meiner Klasse schienen ähnlich ambivalente Gefühle zu entwickeln. Anders konnte ich mir die mal alberne, mal aggressive Häme nicht erklären, mit der meist über alles Geschlechtliche gesprochen wurde. Offenbar war es ein Makel, einen Penis oder eine Scheide zu haben, also ein sexuelles Wesen zu sein. 

 

Dieser Atmosphäre aus Neugier, Scham und Abwertung entwuchs ich keineswegs, als ich mit elf Jahren auf ein "Jesuitisches Bubengymnasium" kam. Nicht nur bei vielen der weißen, männlichen Bürgerkinder, sondern auch beim Lehrpersonal, allen voran bei den Jesuiten, herrschte ein sonderbarer Tonfall in Bezug auf Mädchen, Frauen und alles Sexuelle. Mädchen, mit denen man vor wenigen Monaten noch ganz normal und von Mensch zu Mensch gespielt hatte, wandelten sich in fremde Wesen. Große Gefühle wurden lächerlich gemacht, sexualisiertes Reden und das Bewerten von Mädchen galt hingegen als cool. Es gab einen älteren Schüler, der bewundert wurde, weil er schon mit einigen Mädchen geschlafen hatte, und es gab am benachbarten Gymnasium für "höhere Töchter" ein Mädchen, das es auf ähnliche Weise bloß zum Spitznamen "Sperma-Agathe" gebracht hatte. Ein magischer Mechanismus schien da zu greifen: Schlief ein Junge mit einem Mädchen, verwandelte er sich in einen Helden und sie wurde zur Schlampe. Ihr Wert ging auf den Jungen über. Und Wert konnten wir gut gebrauchen, denn wir steckten offenbar in dem, was der Sozialpsychologe Rolf Pohl "Männlichkeitsdilemma" nennt: Jungs sollen selbstsicher und unabhängig sein, das starke Geschlecht. Gleichzeitig sind sie nicht nur erst einmal rundum abhängig von einer Mutter, sondern später auch von der Gunst der Mädchen, um die ihre tiefsten Wünsche kreisen und an denen die Bestätigung ihrer Männlichkeit hängt. Entsprechend hechelten viele von uns mit wachsender Bedürftigkeit den Mädchen hinterher, taten aber so, als sei das alles nur Schnickschnack. 

 

Dass in diesen weit verbreiteten Haltungen etwas tief Gestörtes lag, spürte ich mehr, als dass ich es dachte. Ein weiteres Dilemma verwirrte mich zusätzlich: Einerseits lag ein romantischer Schleier über dem Sex. Allein die Liebe machte den Geschlechtsakt menschenwürdig, und Liebe bedeutete nicht oberflächliches Verknalltsein, sondern Verantwortung – auch für möglicherweise entstehende Kinder. Diese in der katholischen Sexuallehre ausbuchstabierte Sichtweise las ich aus Worten und schwer greifbaren Haltungen meiner Mutter und anderer einflussreicher Personen heraus. Und es zeitigte Wirkung: Noch als Student, "verliebte" ich mich, wenn ich eine Frau einfach nur sehr attraktiv fand. 

 

Frauen galten als dazu befähigt, Sex und Liebe zu verbinden, während Männer als dauerbrünftige Sexmonster betrachtet wurden. Männer wollten Sex und mussten deshalb lernen zu lieben. Frauen wollten Liebe und mussten deshalb lernen, auch Sex zu mögen. So weit, so old school. Andererseits lag der Geist der sexuellen Revolution in der Luft: Freier Sex macht freie Menschen. Niemand wollte ein verklemmter Spießer sein. Nur wer sich "locker machte" und sein wahres orgasmisches Potenzial auslebte, konnte seinen Körperpanzer aufbrechen und den inneren Fascho besiegen. Ich stand als Teenager also vor der Wahl, ein Triebtäter auf dem Weg ins Höllenfeuer oder ein Nazi zu werden. Mein männliches Geschlecht schien mich für beides zu prädestinieren. Ob es um Provinz-Revoluzzer ging oder um Kinder missbrauchende Geistliche – in einem herrschte Einigkeit: Die Sexualität des Mannes war das Hauptproblem. Entweder war sie zu aggressiv-verklemmt oder zu triebhaft-animalisch. Mit uns Typen stimmte etwas von Grund auf nicht. Um es vorweg zu nehmen: Die Pornografie zeigte mir keinen Ausweg. 

 

Den ersten Pornofilm fand ich als 13-Jähriger durch Zufall auf der Videocassette des fünf Jahre älteren Nachbarsjungen. Ich sah den Film zunächst einmal allein und fand mich in einem Knäuel widersprüchlicher Empfindungen wieder, an denen ich bis heute hin und wieder herumnestele. Dann ging ich daran, den Film auf eine zweite Cassette zu kopieren. Auf dem Schulhof hatte ich schon mit indizierten Horrorfilmen wie "Tanz der Teufel" und "Zombies im Kaufhaus" für Furore gesorgt. Jetzt setze ich noch einen drauf. Bald flogen mir weitere Filme zu, die ich meist mit anderen Jungen zusammen ansah. Ich fand diese Runden zwar ausgesprochen peinlich, machte aber trotzdem mit oder lud sogar zu ihnen ein. Mannwerden schien generell etwas damit zu tun zu haben, möglichst Dinge zu tun, die man eigentlich zunächst nicht tun wollte: saufen, rauchen, kloppen, cool sein, sich selbst und anderen wehtun. 

 

Gleich in meinem ersten Pornofilm sagte die Frau, es tue ihr weh. Der Mann macht weiter. Ein anderer kommt herein und fragt gelangweilt, ob er gleich auch mal dürfe. Dabei fragt er nicht die Frau, sondern den anderen Mann.  Die Einstellungen wechselten zwischen Penetrationen in minutenlangen Nahaufnahmen und Totalen, in denen erst der eine, dann der andere Mann die Frau von hinten nimmt. Dazu gibt es herablassende Kommentare und hin und wieder einen Schlag mit der flachen Hand auf eine Pobacke, als wolle man ein Pferd antreiben. Das alles erschien mir voller Häme, als ob Sex vor allem die Schadenfreude von Männern befriedigte. Ich fand es fies, wie die Männer in den Pornos die Frauen behandelten, aber es erregte mich auch. Und als ich zum ersten Mal Sex hatte, überprüfte ich immer wieder, ob es bei uns auch so aussah wie in den Nahaufnahmen.

 

Diese Filme brachten etwas an die Oberfläche, was schon vorher in mir virulent gewesen war: eine Verquickung von Grausamkeit und Geilheit. Schon als Grundschüler hatte ich manchmal von Frauen an Marterpfählen fantasiert. Natürlich wollte ich ihnen helfen, sie taten mir leid, wehrlose Opfer, die sie waren. Erst später fiel mir auf, dass ich die Rettungsfantasien ziemlich lange hinauszögerte, um vorher an mir herumzuspielen. 

 

Pornofilme sind Übergriffe, vor allem gegenüber Kindern und Jugendlichen, die noch nicht wissen, was auf sie zukommt. Ich fühlte mich beim Sehen des ersten Pornofilms als Voyeur und Täter. Gleichzeitig wurde etwas mit mir gemacht. Die Darstellungen übertraten meine Grenzen: Ohne Scham hielten Menschen ihre erregten Geschlechtsteile in die Kamera. Privates wurde öffentlich. Wildfremde Menschen zogen mich hinein in ihr scheinbar Intimstes. In ihrer Welt wurde Sex omnipräsent, beliebig, unpersönlich, geil und leer. 

 

Begehren (heiße Frau betritt den Raum) und Erfüllung (kniet sich hin und bläst) fallen im klassischen Pornofilm oft in eins. Das ist besonders attraktiv für Männer, die vom Werben um Frauen und der komplexen Kommunikation echten Liebesspiels frustriert sind. Der Konsum von Pornos ist eine schnelle Abkürzung zum "Männlichkeitsgefühl", senkt aber die Frustrationstoleranz zusätzlich: alles, sofort, auf Knopfdruck, ohne emotionale Verpflichtung, Hingabe und eigene Verwundbarkeit. Echter Sex erscheint dadurch bald noch komplizierter und unbefriedigender. Pornografie wird als Ersatz wichtiger. Man braucht sie, weil man sich klein fühlt und fühlt sich klein, weil man sie braucht. Ein erstklassiges Geschäftsmodell: Es nutzt das Suchtpotenzial seiner Kunden so konsequent wie McDonald's seine leeren Trostkalorien und ist legaler als die meisten Drogen. 

 

Aber worin genau besteht der Suchtfaktor? Warum gucken Männer überhaupt Pornos und befriedigen sich nicht einfach anhand eigener Fantasien? Weil das, was sie fantasieren, ja im Film echt stattfindet. Man ist dabei und doch außen vor. Man kann von der alles gewährenden Frau träumen und sie sich gleichzeitig vom Leib halten. Die Frau tut alles, was man will, wird zum Objekt über das man verfügt wie über den eigenen Körper. Gleichzeitig kann sie einen nicht verlassen oder abwerten, weil sie selbst abgewertet ist. 

 

Vielleicht ist das nur meine ganz persönliche Meise. Aber der Austausch mit anderen lehrt mich: Für viele Männer liegt der verborgene Reiz der klassischen Pornografie in der Sehnsucht nach einer bestimmten Art von Mutter und in der Angst genau vor dieser: die verschmelzende, narzisstisch missbrauchende Mutter. Als Verstärker des Reizes dient Demütigung. Es gilt als selbstverständlich, dass Männer Frauen erniedrigen, um sich selbst mächtiger zu fühlen. "Männerfantasie" heißt das dann manchmal, und man fragt nicht weiter nach. 

 

Als jugendlicher Pornogucker verstand ich die Erniedrigung der Frau bereits darin, dass man sie nackt vorführte, denn dadurch verlor sie ja gemäß des Schlampenstigmas an Wert. Ich wollte auch als 13-jähriger nicht kaltschnäuzig und egoistisch sein und Menschen zur eigenen Befriedigung benutzen. Gleichzeitig – und die Filme brachten es ans Licht – wollte ich genau das. Ich onanierte während bestimmter Szenen und hatte anschließend Mitleid mit den Frauen, weil ich sie zu Sexobjekten degradiert hatte. Dass die Charaktere der Männer auch nicht gerade tief gezeichnet waren, beschäftigte mich weniger. Mit ihnen hatte ich kein Mitleid, obwohl sie im Film ebenfalls reine Funktionsfiguren sind. 

 

Auch wenn es nur eine Inszenierung war: Warum spielten die Frauen bei so etwas mit? Ihre Erniedrigung, die weltweit angeschaut werden konnte, war doch real. Ich verstand erst später: Demütigen und Gedemütigt-Werden sind zwei Seiten derselben Medaille, die aus Verletzungen des Selbstwertgefühls und einer rituellen Wiederinszenierung als Geschlechtsakt geschmiedet wird. Pornos sind ein – oft geschmacklos inszenierter – Tanz um unsere tiefsten Wunden. Sicherlich, es gibt Pornos, die ganz anders sind – heute redet alle Welt von Erika Lust und Fair-Trade-Bio-Pornos mit garantiert glücklichen Darstellern. Manche schwören ja auch auf alkoholfreies Bier und vegane Würste. Aber viele gucken weniger freundliche Pornos nicht, obwohl sie so ein ungutes Gefühl zurücklassen, sondern gerade deswegen.

 

Ich hatte Glück. Ich wurde nicht pornosüchtig. Aber meine Fantasien wurden eindeutig durch die Filme mitgeprägt, die ich als Jugendlicher gesehen hatte. Spätere Erlebnisse konnten diese Prägung nicht völlig überschreiben. Bis heute stelle ich mir Fragen: Kann man noch aufwachsen, ohne dass Pornografie das eigene Begehren prägt? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Pornografiekonsum und sexueller Gewalt? Bevor jemand "Quatsch" oder "aber sicher" ruft: Die wissenschaftliche Debatte dazu ist komplex, differenziert und womöglich auch für eindeutige Pornogegner und Pornobefürworterinnen noch ergiebig. Eine andere Frage: Haben etliche männliche Kommentatoren auf die #MeToo-Debatte so defensiv reagiert, weil sie fürchteten, ihre Fantasien würden an den Pranger gestellt? Müssen sich heute alle Männer für ihre sexuellen Wünsche schämen? Sollten wir darüber reden? Mit wem? Wie? Sehen wir innere Konflikte mehr als Bedrohung denn als Katalysatoren, die unsere Kreativität befeuern? Sind wir frei, wenn wir andere und uns selbst erniedrigen müssen? Unter uns, Jungs, die sexuelle Revolution hat gerade erst begonnen. 

 

 

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GRAUSAME GEILHEIT • Anselm Neft
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