Igor Flach (1966 – 2008)
Die Rütligasse in Bern. Das Musikhaus Krompholz. Der Keller mit den Kleininstrumenten. Da ist es passiert. Regal über Regal türmte sich vor dem zwölfjährigen Igor. In jedem ungezählte Mundharmonikas: Chromatische, Diatonische, Oktav- und Tremolo-Gestimmte, Kreuzwender und Blues-Harps in allen Tonarten. Kanzellenkörper aus Birnbaum, Aluminium oder Acryl-Glas. Verchromte Deckelpaare, vernickelte Messingstimmplatten, geräuscharme Schieber, Mundstücke mit runden oder eckigen Anblasöffnungen. Der Junge verfiel den kleinen Instrumenten so rigoros, dass die Eltern nicht umhin konnten, ihm einen ganzen Sack davon mit auf die Heimreise ins Internat in Königs Wusterhausen zu geben. Ein Besuch pro Jahr stand dem Heranwachsenden zu. Davon abgesehen hatte er in der DDR zu bleiben. So verschaffte die Partei dem Botschaftsrat und seiner Frau einen besonderen Anreiz zur Heimkehr, die sie auch nach drei Jahren antraten.
Vor dem Wunder von Bern hatte Igor nur eine schlichte chromatische „Munti“ gekannt, nur ein wenig lustlos auf der Violine gefidelt oder sich die Zeit mit Steckklötzchenbauten vertrieben. Von nun an sah und hörte man Igor aber zu jeder Tages- und Nachtzeit mit einer seiner Mundharmonikas an den Lippen. Er hörte sich Stücke heraus, schaute sich Techniken von seinem Vorbild Jean Jaques Milteau ab oder erfand eigene. Eine Lehre als Uhrmacher vermittelte ihm das nötige feinmechanische Geschick, um seine ständig mehr werdenden Mundharmonikas selbst stimmen und reparieren zu können.
Mit 17 spielte er in seiner ersten Band, der Jonathan Blues Band. Man hatte ihn vor dem tyrannischen Bandboss Peter Pabst gewarnt hatte, der auch schon mal Fäuste sprechen ließ. Als Igor mit einem befreundeten Tontechniker vom Pabst um die Gelder der letzten Tournee geprellt wurde, beriet die beiden Gregor Gysi, damals hauptberuflich Rechtsanwalt: „Das Geld seht ihr nicht wieder. Es liegt eh weit über dem Ostsatz für Nicht-Profimusiker.“
Den Status „Profimusiker“ erreichte der Autodidakt tatsächlich nie, obwohl kaum ein Begriff besser zu Igor gepasst hätte. Er spielte mit einer Leidenschaft, die auch Menschen ansteckte, die die Mundharmonika zuvor eher für einen Scherzartikel gehalten hatten. Er blieb nie auf einem erreichten Level stehen. Er spielte so vielseitig, virtuos und eigenständig, dass er heute als einer der weltweit besten All-category-Harpspieler gilt. Und tatsächlich ist er nie einer Arbeit nachgegangen, die nichts mit Mundharmonikas zu tun gehabt hätte. Er tourte in einem Trabant-Kombi durch die DDR, um Abend für Abend barfuß mit Gitarre und Harp auf einer Bühne zu stehen, begleitet vom Halbplayback, dass sein Freund der Tontechniker abfuhr. Er spielte vor 10 und vor 1000 Leuten. Vor hartgesottenen Rentnern in Klingenthal und vor schunkelnden Bikern in Kempten im Allgäu. Er spielte Blues, Folk, Country, Weltmusik, Klassik oder auf Wunsch „Durch den Monsun“ von Tokio Hotel. Er spielte viel mit Stefan Diestelmann bevor der 1985 „rübermachte“, musizierte mit den Ostbands „Passat“ und „Pankow“, mit der Uwe-Ochsenknecht-Band, mit den Yardbirds, Buzz Dee (heute Knorkator), Louisiana Red und etlichen anderen. Besonders häufig tourte er im Duo mit Uwe Bluesrudy Haase. Auf der Frankfurter Messe scharten sich begeisterte Japaner um ihn, in Klingenthal kreuzte ein Fan auf, der eigens aus der Schweiz angereist war, in Wittenberg beklebte ein ansonsten unauffälliger Mann ein ganzes Zimmer mit Fotos von und Zeitungsartikeln über Igor.
Bei einem Konzert in der „Knorre“ in Friedrichshain wurde der dreißigjährige Igor von einer jungen Dame namens Yvette angesprochen. Ihr gefiel der hingebungsvolle Musiker mit den langen Haaren und dem schüchtern-warmen Ausdruck in den Augen. Die beiden verliebten sich ineinander und nach einer Weile verließ Igor sogar die Jungmänner-WG mit dem Tontechniker, die sich rühmte mit einer Mark am Tag für Essen auszukommen. Mit Yvette schaffte Igor sogar, was ihm seine Freunde aufgrund seines toleranten und geduldigen Wesens gar nicht zugetraut hätten: zu streiten. Der Hauptgrund für gelegentliche Meinungsverschiedenheiten war Igors Zeitmanagement: Neben den zahlreichen Auftritten betrieb er den Online-Shop www.bluesharp-online.de, baute große Netzwerke zwischen Musikern und Fans auf, brachte Struktur in die Arbeit manches Kollegen und half gerne, indem er beispielsweise mal eben kostenlos eine Homepage programmierte. Und dann musste er auch noch nach Chicago fliegen, um in bitterer Kälte Mundharmonikas auf dem Weihnachtsmarkt zu verkaufen ohne dabei einen Pfennig zu verdienen. Obwohl sich Igor üblicherweise auf 4-5 Stunden Schlaf beschränkte, blieb so hin und wieder etwas wenig Zeit für die Beziehung. Erst nach der Geburt der Töchter Natassja und Finnja begann Igor damit, seine Prioritäten ein wenig zugunsten eines Familienlebens zu verschieben.
Natürlich nahm er sich weiterhin Zeit für Projekte: Eine antiallergische Glasmundharmonika sollte gebaut werden. Mit Tino Standhaft entstanden erste Neil Young Coverversionen für eine CD. Und natürlich guckte er immer noch in Sportbars American Football-Spiele, während er gleichzeitig, mit dem Laptop auf den Knien, Kundenanfragen seines Online-Shops bearbeitete. Igor konnte immer und überall arbeiten. Im Kreuzberger „Sandmännchen“ sah man ihn seelenruhig mit seinem Freund Michael Falkenstein die updates einer Homepage am Bildschirm besprechen, bevor sich Igor um 4.00 Uhr früh unter den zechenden Radaubrüdern den nüchternsten griff, um mit ihm eine Partie Schach zu spielen.
Und Igors Bekanntheitsgrad wuchs. Kurz vor seinem 42. Geburtstag wird er von Michael Hardy zu CD Aufnahmen nach New York eingeladen.
Das Ende kam unvermittelt: Nasenbluten, Herzoperation, Infizierung mit antibiotika-resistenten MRSA-Bakterien, sechs Narkosen in sieben Wochen, ratlose Ärzte. Tod.
Während Natassja und Finnja durch die Wohnung hopsen, sitzen alte Freunde mit Yvette und Igors Mutter am Küchentisch und planen Igors Gedenkkonzert für den 10. April im Kesselhaus der Kulturbrauerei. Fassen kann es keiner: Warum ausgerechnet Igor?
(erschienen im Tagesspiegel am 4.4.2008)