(erschienen in: "Frische Mächen, extra fein", Satyr-Verlag 2015)
Meine Freundin war seit Monaten seltsam. Zwar hatte ich sie schon früher in Phasen von unerklärlicher oder zumindest mir nicht erklärter Schwermut und Verschlossenheit erlebt, aber bisher hatte ich diese Zustände einfach hingenommen wie Wetter. Nun aber, wo die Verschlossenheit von Tag zu Tag zunahm und sich mit beunruhigenden Anzeichen geistiger Abwesenheit in meiner Anwesenheit paarte, beschlich mich der Verdacht, dass es mit unserer Beziehung nicht zum Besten stand. Freunde rieten mir, sie zu fragen, was denn los sei, aber diese Freunde verstanden offenbar nicht, was ich mit dem Wort „Verschlossenheit“ hatte zum Ausdruck bringen wollen. Eine in Liebesdingen sehr bewanderte und daher seit Jahren allein lebende Freundin brachte mich auf den Gedanken, dass es einen Anderen geben müsse.
Der Gedanke nagte an mir. Mehr noch als einen möglichen Nebenbuhler fürchtete ich mein erwachtes Misstrauen. Ich spionierte meiner Freundin nach, was man nicht tun soll und was mir ein reichlich ungewöhnliches Abenteuer einbrockte.
Der Novemberhimmel lag grau und öde über der Stadt, als ich an einem späten Donnerstagnachmittag meiner Freundin heimlich nach Duisdorf folgte. Sie behauptete, dort mit einer Amateurband zu proben, aber irgendwie kamen mir die knappen Ausführungen über eine acht Personen große Bigband namens Bonner Bundesband von Anfang an halbseiden vor. Zu Recht, wie sich herausstellte: Meine Freundin machte ihr Fahrrad an einer Laterne fest und ging in das bereits dämmrige Derletal, in dem es zu dieser Stunde nach Mulch roch. Ich staunte nicht schlecht, als ich auf einer Wiese im Schatten fast kahler Bäume ein Zirkuszelt erblickte, dessen grün-rote Musterung im Zwielicht trist und verwaschen wirkte. „Zirkus Urodela“ stand in krakeliger Schrift auf einem Schild über dem Eingang, in dem meine Freundin verschwand. Mit klopfendem Herzen wartete ich einige Augenblicke und ging dann auf die dunkle Stelle zu, an der die Zeltwand offenstand. In einem Kassenhäuschen saß eine dicke, krötenartige Frau und musterte mich misstrauisch. „Der Obolus“, ächzte sie und deutete mit ihrer kurzen, breiten Hand auf ein grünes Kästchen. Ich zog mein Portemonnaie hervor und hielt der Frau einen Zehn-Euro-Schein hin. Sie aber schüttelte den Kopf: „Das ist kein Obolus. Du gehörst hier nicht hin.“
Ich warf rasch einen Blick ins Innere, konnte aber nichts Interessantes erkennen. Zur Irreführung der Kassenfrau ging ich den Weg zurück, den ich gekommen war und näherte mich dann dem Zelt von der Rückseite. Die Seile der Konstruktion waren straff gespannt und ich musste eines davon lockern, um mich unter der Plane hindurch ins Innere zwängen zu können. Ich fand mich unter aufsteigenden Sitzreihen aus Holz wider und hörte das nervtötende Schlagen einer Trommel. Um sehen zu können, was in der Manege vor sich ging, kletterte ich so unauffällig wie möglich auf eine der Sitzbänke. Kaum hatte ich Platz genommen, fiel mein Blick auf einen leicht gekrümmten Mann mit Spitzbart, der in der Mitte des Zeltes auf Sägespänen stand und in seinem schäbigen schwarzen Anzug und dem ramponierten Zylinder eine gleichzeitig traurige und abstoßende Erscheinung abgab. Neben ihm hatte sich ein dicklicher Zwerg mit Froschmaske aufgebaut und schlug mechanisch mit zwei Klöppeln auf eine vor den Bauch geschnallte Trommel. Der Kleinwüchsige beendete sein Spiel mit einem Wirbel, und kaum war der letzte Ton verklungen, schnarrte der Mann: „Volk zu Bonn!“ Eine Anrede, die selbst dann albern oder ironisch geklungen hätte, wenn die Publikumsränge gut gefüllt gewesen wären. Stattdessen saßen aber nur wenige Menschen in den Reihen verstreut und immer allein. So auch meine Freundin, die mit großen Augen auf den Zirkusdirektor blickte, der im zugleich hellen, aber doch schmierigen Licht einiger Scheinwerfer etwas widerwärtiges und irgendwie molchhaftes an sich hatte.
„Ich, Direktor Zwiebelchen, heiße euch alle, alle herzlich willkommen. Hahaha. Ihr seid hier, weil ihr auf die eine oder andere Weise unserem Reich angehört. Und ich bin hier, um euch die Wunder dieses Reiches zu zeigen. Beginnen wir mit der Schwärzung, einer atemberaubenden Tiernummer, die so noch nie aufgeführt und daher auch noch nie gesehen wurde.“ Der Impressario klatschte in die Hände, der Zwerg trommelte, ein Vorhang hinter ihm öffnete sich und ein struppiges, schwarzes Pony trabte in die Manege. Es lief in nicht gerade spektakulärem Tempo einen Kreis, während der Zirkusdirektor „He, ho, Pferdchen nicht so schnell!“ rief. Meine Freundin starrte mit offenem Mund auf die trostlose Darbietung, und als der Direktor mit dem Knallen einer plötzlich in seiner Hand befindlichen Peitsche die zweite Runde des Ponys einleitete, klatschte sie in kindlicher Freude in die Hände.
Zur nächsten, wieder von einem Wirbel angekündigten Nummer tauchten zwei handelsübliche, aber besonders abgewrackt wirkende Weißclowns auf und zeigten lachend aufeinander, bevor sie je eine Torte ins Gesicht des Gegenübers warfen und danach erneut lachend aufeinander zeigten. Meine Freundin schüttete sich aus vor Lachen. Ihr Oberkörper schwankte vor und zurück, und schließlich wischte sie sich kopfschüttelnd mit dem Handrücken die Augen. Auch die übrigen Besucher amüsierten sich auf das Beste, und ich hielt es für klug, mich ebenfalls überaus erheitert zu zeigen, obwohl mir eher zum Weinen zumute war. Da saß meine Freundin und wirkte fröhlicher und konzentrierter, als ich sie in den letzten Monaten je erlebt hatte. Sie saß da, keine zehn Meter von mir entfernt, und wirkte doch unerreichbarer als je ein Mensch auf mich gewirkt hatte.
Es folgten ein Zaubertricks, die der Zirkusdirektor als „Gelbung“ und „Rötung“ ankündigte und selbst vorführte. Um es kurz zu machen: Er zog mehrere zitronengelbe Tücher und zwei tote, rote Tauben aus seinem Zylinder. Meine Freundin zeigte sich völlig fassungslos. Erst jetzt fiel mir auf, dass an der Kuppel des Zeltes ein etwa ein Meter großer Spiegel befestigt worden war, in dem ich einen Ausschnitt der Manege zu erkennen konnte. Ich traute meinen Augen nicht: In der Spiegelung war der Trommelzwerg ein riesiger, auf den Hinterbeinen stehender Frosch mit goldener Haut und seine Trommel eine milchige, pulsierende Blase, in der kaulquappenhafte Schemen zitterten. Der Zirkusdirektor wiederum war ein ebenfalls aufrecht stehender Salamander mit langen, schwarzen Menschenhaaren und gelben, menschlichen Augen. Auch schien der Boden der Manege nicht aus Sägespänen sondern glimmenden Edelsteinen zu bestehen, in denen sich lurchige Wesen zu winden schienen.
„Und nun“, schnarrte der Salamander, „die Vorbereitung der Hochzeit. Nun also verehrte Damen und Herren, die Verlobung! Wo ist die Olmenbraut?“
Meine Freundin stand auf und ging wie ferngesteuert in die Manege, wo ihr der widerliche Direktor je nach Perspektive eine Hand oder eine gelb gesprenkelte schwarze Extremität hinstreckte. Der Froschzwerg trommelte, der Vorhang öffnete sich und ein gut zwei Meter großer Mann in einem altmodischen, grauen Anzug schritt zur Zeltmitte. Seine Augen glühten wie brennende Zigaretten im Dunkel einer Waldnacht. Ich wagte es kaum, in den Spiegel zu schauen, und das, was ich dort sah, rechtfertigte meine Scheu: ein blassgrauer Riesenolm mit einer Krone aus blauen Flammen stand da wie aus den Tiefen der Hölle heraufbeschworen.
„Der König der Olme“, schrie der Zirkusdirektor mit überschlagender Stimme. Meine Freundin reichte der Schreckgestalt anmutig eine Hand zum Kuss und schon glitt eine schmale, gespaltene darüber. In einer mir endlos erscheinenden Zeremonie wurde meine Freundin mit dem grauenhaften Wesen verlobt. Die Hochzeit sollte am 24. Dezember, dem Geburtstag des Königs der Olme stattfinden.
Um nicht doch noch entdeckt zu werden, stahl ich mich aus dem Zelt, bevor die Vorstellung ihr Ende fand. Draußen griff ich zum Mobiltelefon und rief die Mutter meiner Freundin an, die sofort ans Telefon ging und in breitem Allgäuerisch sagte: „Hei, Anselm, gut das du anrufst.“
„Gundel, etwas stimmt nicht mit deiner Zweitgeborenen.“
„Ich weiß, sonst wäre sie nicht mit dir zusammen.“
„Ernsthaft, Gundel, ich mache mir Sorgen. Sie soll den König der Olme heiraten“
„Ich weiß. Hat sie dir das nicht gesagt?“
„Nein.“
„Dann wird es aber Zeit. Weihnachten ist Hochzeit. Du bist bestimmt auch eingeladen.“
Ich konnte es nicht fassen, sowohl meine Freundin als auch ihre Mutter wussten etwas, was durchaus entscheidend für MEINE Zukunftsplanung war, aber niemand hatte mir etwas gesagt. Gundel erklärte mir, dass meine Freundin wenige Monate nach ihrer Geburt schwer krank geworden war. Das Fieber stieg und stieg. Die Ärzte wussten sich keinen Rat und am Heiligabend nahmen die Eltern das todgeweihte Kind aus dem Krankenhaus zurück nach Hause. Dann sei der Heiler gekommen. In einem Mantel aus Salamanderhäuten sei er zur Wiege gegangen, hätte sich die im Fieber gefangene Süße besehen und gesagt, dass alle paar Jahrzehnte Olmbräute zur Welt kämen.
„Willst du den Rest hören?“, fragte Gundel.
„Ich kann‘s mir denken. Sie wurde mit viel magischem Brimborium dem König der Olme versprochen, und wenn sie ihn nicht am 33. Jahrestag dieser verwunschenen Weihnachtsnacht heiratet, stirbt sie.“
„Anselm“, sagte Gundel, „von den Freunden meiner Tochter, die ich kennengelernt habe, bist du einer der drei Schlausten.“
Gerührt legte ich auf. Dann verprügelte ich ein Gebüsch. Als ich mich wieder beruhigt hatte, fuhr ich auf schnellstem Wege zu meinem Freund Mahmoud, der an der Viktoria-Brücke direkt über dem Zimmer wohnt, in dessen Fenster ein rot-blaues Open-Schild hängt. An diesem Tag leuchteten nur das O und das P. Ich kannte Mahmoud vom gemeinsamen Studium der Angewandten Magiewissenschaften in Bonn. Während ich mich mit der Kabbala, gnostischen Sekten und schließlich recht hausbackener sumerischer Dämonenbeschwörung beschäftigt hatte, waren Mahmoud modernere Zweige wie Chaosmagie und thelemitische Psychonautik deutlich sympathischer gewesen.
Als ich Mahmouds nach Weihrauch müffelnde Wohnung betrat, war er gerade in eine Operation der niederen Magie vertieft: Die Gelderschaffung aus dem Nichts. Er schob das Kreditformular der Bank beiseite, grüßte mich mit einer angedeuteten Verbeugung und während seine Meerkatze „Pimmelpaule“ auf meine Schulter sprang und in meinen Haaren nach Nüssen wühlte, schilderte ich meinem Studienfreund das Vorgefallene und bat ihn dann, „König der Olme“ bei google einzugeben. Mahmoud strich nachdenklich einen langen, schwarzen Bart, dann warf er das Requisit in die Ecke und schüttelte den Kopf: „Du gehörst zu einer Generation, die es eigentlich noch besser wissen müsste: Das wirklich Wichtige steht nicht im Netz.“ Er zog einen in Otterfell gebundenen Folianten aus dem Regal, blätterte eine Weile und hielt mir dann den Abdruck eines Kupferstiches hin: Ein grässlicher Lurch mit Flammenkrone, der mich nur zu gut an den Anblick im Spiegel erinnerte.
„Kommt aus Atlantis“, sagte Mahmoud. „Also aus Yesod, wenn du es kabbalistisch fassen willst. Er ist das Feuer im Wasser und das Wasser im Feuer. Er ist der Mond in der Vier.“ Ich nickte. Was Laien wie haltloses Geschwätz vorkommt, ist für uns Eingeweihte klar wie ein mathematisches Axiom, jedoch nicht allein auf logischer Ebene sondern auf allen Ebenen. Daran können auch die zahllosen unwissenden Nachäffer mit ihrem tatsächlich haltlosen Gefasel nichts ändern.
„Führerschaft und Unterwerfung, Sieg und Niederlage, Nähe und Distanz, das sind die Pole zwischen denen Yesod und der Olmkönig stehen.“ Mahmoud sah mir tief in die Augen. „Alle 66 Jahre heiratet er eine Menschenfrau, um mit ihr Halbolme zu zeugen, Mittler zwischen den Welten. Oft ist die Frau, die er heiratet, bereits selbst ein solcher Halbolm.“
Na großartig, dachte ich. 50.000 vom Alter her zu mir passende Frauen alleine in Bonn und ich musste natürlich ausgerechnet an eine Olmenbraut geraten.
„Und wenn ich nicht möchte, dass meine Freundin mit einem Anderen laicht?“, sagte ich.
„Hmm“, Mahmoud griff nach einem anderen Bart und strich daran herum. „Hier geht es nicht um die verblendeten Belange deines vergänglichen Egos. Du wirst eine andere finden, oder, was wahrscheinlicher ist, ein alter Hagestolz werden.“
„Trotzdem Danke“, sagte ich und ließ mich in einen Sessel fallen. „Bist ein echter Freund, Mahmoud.“
„Wirst du jetzt etwa schnippisch, weil ich dir die Reife zutraue, die Wahrheit zu ertragen, mein okzitanischer Freund?“
„Nein, nein. Wen man liebt muss man freilassen, stimmt‘s? Bestimmt hat sie es bei diesem Olm auch viel besser.“
„Der Olm ist ihr Schicksal. Ich möchte dir ein Gedicht des Sufi Abu-Sa’id-i-Abu’l-Khair zitieren: Als er gefragt wurde, was es heiße, ein Liebender zu sein, gab er zur Antwort: Was immer du im Kopf hast, vergiss es. Was immer du in der Hand hältst, gib es her. Was immer dein Schicksal zu sein hat, stelle dich ihm.
„Ach ja?“, sagte ich. „Ist das nicht von Erich Fried?“
Mahmoud sah mich mitleidig an. „Ich fühle deinen Schmerz, mein Freund.“
„Pass auf, Mahmoud: Dieser verflixte Olm ist auch mein Schicksal, und dem werde ich mich stellen. Wie komme ich zu ihm?“
„Ach, du willst zu ihm? Sag das doch gleich. Du musst natürlich durch den Spiegel. Warte!“ Mahmoud öffnete einen Hängeschrank und zog einen kleinen Tontopf heraus. „Hier“, sagte er und präsentierte mir einen traubengroßen Popel, den er aus dem Topf gefischt hatte. „Die Rosine der Weisen. Die rauchst du jetzt und dann radelst du zum Zirkus und steigst durch den Spiegel.“
Ich nickte matt und sah Mahmoud zu, wie er eine sehr große Zigarette rollte und die Rosine in den Tabak bröselte.
Die Kirchturmuhr von Duisdorf schlug Mitternacht und ich stand in einem stockdunklen Zelt, von dessen Decke ein pechschwarzer Spiegel auf mich herabstarrte wie das Auge eines Basilisken. Vielleicht lag es an diesem Auge, vielleicht an der Rosine, vielleicht an der Frage, was mir bevorstand: Zumindest konnte ich mich plötzlich nicht mehr rühren. Ich dachte an meine Freundin, und dass ich sie wahrscheinlich verlieren würde, und Schmerz stach in mein Herz und breitete sich von dort in bald stärker bald schwächer brandenden Wogen im ganzen Körper aus.
„Lade den Schmerz nicht ein“, hörte ich Mahmouds Stimme in meinem Kopf. „Wenn er aber an deiner Tür klopft, dann bewirte ihn wie einen Freund.“
Dann musste ich an den Olmkönig denken. Seine unergründlichen, gleichzeitig faszinierenden und abstoßenden Augen. Und wieder sprach des Freundes Stimme in meinem Geiste zu mir: „Was du wahrnimmst und was du bist, sind eins.“
„Ach ja?“ rief ich ärgerlich und sah plötzlich lichtfarbene Lurche, die sich im Spiegel schlängelten. Mit einem Satz sprang ich in die Höhe, streckte die Arme aus und flog in das geschliffene Kristall als sei es ein lauwarmer Pudding. Jenseits der dickflüssigen Masse fand ich mich in einer Felslandschaft wieder, die sich unter dem Licht eines sichelförmigen Mondes erstreckte. Felsen türmten sich schroff und fremdartig, aus schwarzen, klobigen Öfen züngelten Flammen, in denen Salamander schrieen, und am Ufer eines Lavaflusses stand der König der Olme und fixierte mich aus starren Regenbogenhäuten.
„Anselmus“, lispelte er mit schmaler Lurchenzunge. „Ich fordere dich zum Duell.“
„Soll mir recht sein.“
„Jeder nennt ein Werk aus Film, Literatur oder Theater, jedoch verolmt. Wer zögert oder Flasches nennt, hat verloren. Verstanden?“
„Nein.“
„Gut. Ich fange an: Olm Quijote. Nun du.“
„Die Olmyssee.“
„Die Olmel.“
Ich sah den Schwanzlurch skeptisch an. Er legte den Kopf schief: „Das Olm der Olme.“
Ich nickte und sagte: „Die olmige Komödie.“
„Der Olmenhammer.“
„Nightmare on Olmstreet.“
„Sherlock Olmes.“
„Olmeo und Julia.“
„Ein Mittsommernachtsolm.“
„Olmlet.“
„Kritik der olympischen Vernunft.“
„Olm.“
Diesmal sah mich der Olmenkönig misstrauisch an und ich ergänzte schnell: „Von Goethe.“
„Gut: Olm II.“
„Oliver Olm.“
„Der kleine Olm.“
„Der Herr der Olme.“
„Olm und Olme.“
„Olm und Olme.“
„Das habe ich gerade schon gesagt“, lispelte der Olmenkönig.
„Und welches Werk meinst du?“
„Schuld und Sühne von Dostojevski.“
„Tja, und ich meine Krieg und Frieden von Tolstoi.“
„Stattgegeben. Olmy Dick“
„Der Olm ohne Eigenschaften.“
„Ansichten eines Olms.“
„Der Steppenolm.“
„Der seltsame Olm des Dr. Jekyll und Mr. Hyde.“
„Auf der Suche nach der verlorenen Olm.“
„Fräulein Smillas Gespür für Olme.“
„1984.“
„Was bitte?“
„Von George Olmwell.“
„Der alte Olm und das Meer.“
„Schindlers Olme.“
„Olmgebiete.“
„Ein amerikanischer Werolm in London.“
„Olminator.“
„Vier Olme für ein Halleluja.“
„Das Olmen I.“
„Das Olmen II.“
„Das Olmen III.“
„Das Olmen IV.“
„Das Olmen V. Ah, verflixt!“ Der König der Olme patschte sich eine schwarze Extremität gegen die glänzende Stirn. „Einen fünften Teil hat es ja nie gegeben. Du hast gewonnen.“
Ich atmete auf. Erst jetzt merkte ich, dass mein Herz wie wild schlug und mir der Schweiß von der Stirn perlte.
„Gut“, sagte ich. „Ich habe gewonnen. Was bedeutet das?“
Der König der Olme sah mich aufmerksam an. Dann legte er abermals den Kopf ein wenig schief und sagte: „Nix. Wieso messt ihr Menschen Gewinnen und Verlieren so eine Bedeutung zu? Es ist doch völlig Brause. Was suchst du überhaupt hier?“
„Ich will meine Freundin wiederhaben.“
„Meine Freundin“, äffte mich der Lurch nach. „Wiederhaben! Das klingt als ob dir jemand deinen Schnuller geklaut hätte.“
„Werd‘ nicht frech, Lurch. Ich weiß genau, was du für Laichpläne hast.“
„Tststststs. Gäbe es keine Halbolme, gäbe es über die Hälfte der Werke nicht, die wir eben aufgezählt haben. Von Rembrandts „Olmwache“ oder Beethovens Olmter ganz zu schweigen. Und jetzt tu nicht so, als ob du irgendetwas wüsstest, sondern küss mich!“ Der Olm fuhr sich mit seiner dünnen, verzweigten Zunge über kaum sichtbare Lippen, wobei ein weißes Sekret aus dem Winkel seines Maules tropfte. Dabei sah er mich plötzlich mit den wunderschönen Augen meiner Freundin an, so dass mir das Herz im Leibe sprang.
„Küss mich!“
„Das ist doch absurd!“, sagte ich.
„Ja, es ist absurd“, lispelte der Olm und sah mich weiter aus diesen Augen an, in denen sich die Liebe zum Vertrauten und die Sehnsucht nach dem Unvertrauten so eigentümlich widerspiegelten, und mit einem Male rührte mich sein Lispeln und seine Olmenhaftigkeit und ich dachte „Was kann mir schon passieren? Wovor muss ich mich heutzutage noch schützen?“
Der Kuss schmeckte süß und klebrig wie Grafschafter Goldsaft. Ich griff die auberginenglatte Hüfthaut des Lurches und schloss die Augen, um mich der Situation hinzugeben. Plötzlich gab es ein sehr lautes schmatzendes Geräusch, die Hüften des Olms entglitten meinen Händen, ich spürte, wie sich mein Mund mit etwas länglich-schleimigem füllte und als ich die Augen aufriss, sah ich direkt vor meiner Nasenspitze, den auf wenige Zentimeter geschrumpften Schwanz des Olmenkönigs und dann verschwand auch dieser in meiner Mundhöhle und glitt schnell und geschmeidig meine Speiseröhre hinab in meinen Magen, wobei ein höllisches Brennen meine Eingeweide verschmorte und ich Schmerzen fühlte, die ich nicht für möglich gehalten hätte, und alles in mir verbrannte zu Asche und ich sah mein Leben an mir vorbeiziehen, in all seiner rührenden Belanglosigkeit. Dann wurde mir schwarz vor Augen.
Als ich wieder erwachte, fand ich mich in meinem Bett in Lengsdorf wieder. Neben mir lag die Frau, wegen der ich durch den Spiegel geflogen war. Von tiefem Frieden erfüllt betrachtete ich ihr Gesicht, das wundersam süß und vertrauensselig auf eine Hand gestützt in meine Richtung gebettet lag. Sie schlug die Augen auf. Erst betrachtete sie mich ängstlich, dann neugierig, dann lächelte sie.